Die Gesundheit des Einzelnen ist nicht Privatsache
Wer in einem schwierigen sozialen Umfeld lebt, der tut sich auch in beruflichen Stresssituationen schwer. Das wiederum wirkt sich zusätzlich schlecht auf den Gesundheitszustand aus. Ein perfider Teufelskreis.
„Unsere Gesellschaft unterscheidet Arbeitszeit und Freizeit, als ob wir uns darin als zwei verschiedene Personen bewegen“, kritisiert die Sozialmedizinerin Anita Rieder. Die Leiterin des Zentrums für Public Health an der Med-Uni Wien hält davon wenig: „Im Privatleben habe ich es genauso wie im Beruf mit Stresssituationen zu tun.“Wie wir mit diesen umgehen, hänge beide Male davon ab, welche Bewältigungsstrategien wir gelernt hätten.
Im Job und als Teil einer Organisation müssen unsere Strategien kollektiv zusammenwirken. Diese sogenannte Teamresilienz könne durch Stresstests – wie sie bereits in der Finanzwirtschaft üblich sind – beobachtet werden. Im Beruflichen wie im Privaten gilt: Wer psychisch und körperlich gesund ist, kann Stresssituationen besser begegnen. Die Verteilung von chronischen Krankheiten innerhalb der Bevölkerung ist jedoch eng verknüpft mit sozialen Faktoren.
Neben einem belastenden Arbeitsumfeld wirken sich auch fehlende Bildung und schwierige Wohnverhältnisse auf das individuelle Gesundheitskapital aus. Es sei nicht leicht, sich in einer unsicheren Lebenssituation in einer proaktiven Rolle zu sehen, betont Rieder – sie hat bei den Gesundheitsgesprächen des Forums Alpbach eine Diskussion über Gesundheit am Arbeitsplatz geleitet: „Vor allem dann nicht, wenn man nicht gelernt hat, wie man Stress bewältigen kann.“
Das Problem sei nicht, ab und zu in die Opferrolle zu verfallen, so die Medizinerin, sondern darin gefangen zu bleiben und sich nicht mehr daraus befreien zu können. Stehaufmenschen nennt die deutsche Resilienzexpertin Monika Gruhl jene, die sich selbst aus Zwangslagen befreien können, Verantwortung übernehmen und optimistisch sowie zukunftsorientiert Handlungen setzen. „Das geht allerdings nur, wenn mich die Ge- genwartsprobleme nicht im Jetzt festhalten. Das wird dann zu einem enormen Stressfaktor“, so Rieder.
Auf betrieblicher Seite kann und soll das Stehaufmenschentum gefördert werden. „Letztlich steigt die Produktivität, wenn die Arbeitszufriedenheit hoch ist“, sagt Rieder. Ein gutes Klima sowie eine gelebte und in der Unternehmenskultur verankerte Diversität seien wesentliche Bausteine dafür. Vielfalt betreffe unterschiedliche kulturelle bzw. soziale Herkunft und Geschlechter genauso wie die Inklusion von Menschen mit Behin- derungen und chronischen Erkrankungen sowie von jenen, die Kinder oder pflegebedürftige Angehörige haben.
Ebenso relevant sind Jobkontrolle und Wertschätzung: Wenig Jobkontrolle besitzen naturgemäß jene, die in der Hierarchie unten stehen. Wenn einer Fließbandarbeiterin aber deutliche Wertschätzung für ihre Arbeit entgegengebracht wird, dann reduziere sich ihr Risiko für Erkrankungen dennoch, erklärt Rieder – sprich wenn sie unter ihrer Situation nicht leidet. Fehlende Wertschätzung könne sich indes genauso negativ auf die Gesundheit von Menschen weit oben auf der Karriereleiter auswirken. „Kommt es zur inneren Emigration, also distanziert sich jemand von seinem Arbeitsleben und konzentriert sich ausschließlich auf das Privatleben, dann wird das Leben tatsächlich zweigeteilt. Das ist ein Problem und nicht gesundheitsfördernd“, betont Rieder.