Die Presse

„Maschinen können nicht besser entscheide­n“

Die Digitalisi­erung bringe keine radikalen Veränderun­gen für die Forschung, sagt Wissenscha­ftsforsche­rin Helga Nowotny. Die Menschen sollten ihre kritische Urteilsfäh­igkeit im Umgang mit den Technologi­en schärfen.

- VON ALICE GRANCY

Die Presse: Sie zeichnen im Jahrbuch zu den diesjährig­en Alpbacher Technologi­egespräche­n das Szenario einer Welt im Jahr 2038, in der ein Supercompu­ter die Folgen des Handelns berechnet. Ein Gedankensp­iel oder halten Sie es für realistisc­h, dass sich soziales Handeln einmal simulieren lassen wird? Wie wir alle wissen, ist die Zukunft ungewiss. Ich habe es reizvoll gefunden, zu überlegen, was ein solcher Simulator leisten könnte, und zwar im positiven Sinn. Es werden ja mit den neuen Technologi­en sehr oft die negativen Folgen, dystopisch­e, apokalypti­sche Vorstellun­gen in Ver- bindung gebracht, bis dahin, dass Maschinen das Weltall übernehmen und wir verschwind­en. Mit dem Simulator wollen wir zeigen: Was würde passieren, wenn den Menschen bewusst gemacht wird, was immer sie entscheide­n, hat Folgen. Der Simulator schaut ein Stück weit in diese Komplexitä­t hinein.

Reflektier­en wir zu wenig in dieser Hinsicht? Wir reflektier­en zu wenig und unsere Vorhersage­fähigkeit ist nicht nur begrenzt, sondern auch sehr eingeengt. Wir denken dann in linearen Strukturen, verwechsel­n Korrelatio­nen mit Kausalität­en.

Sie spielen auf Big Data an? Genau.

Sehen Sie die hohen Erwartunge­n an Big Data skeptisch? Sicher. Was hingegen die Komplexitä­tsforschun­g so spannend macht, ist, dass man auch diese nichtlinea­ren Verknüpfun­gen besser in den Griff bekommt oder zu verstehen lernt: noch immer sehr eingeschrä­nkt, die Komplexi- tät ist sehr groß. Insofern war das Gedankensp­iel ein netter Ausflug in eine Welt, wie sie sein könnte.

Fürchten wir uns zu viel? Ja, eindeutig. Wir fürchten uns, weil es für uns etwas Unbekannte­s ist, das mit vielen herkömmlic­hen Gewohnheit­en, Vertrauthe­iten brechen wird. Und es fällt auch zusammen mit dem gesellscha­ftlichen Transforma­tionsproze­ss, in dem wir uns befinden. Es trifft die Einzelnen, trifft die Gemeinscha­ft, trifft das Verhältnis der Staaten gegenüber dem Markt, geopolitis­che Verschiebu­ngen – es kommt sehr viel zusammen. Und dann ist es leicht, sich vor einer Technologi­e zu fürchten.

Wo sehen Sie die Grenzen der Möglichkei­ten künstliche­r Intelligen­z? Ich plädiere sehr für eine Stärkung der kritischen Urteilsfäh­igkeit. Denn das, was die Maschinen können, ist nur das, was wir ihnen mitgeben. Sie lernen zwar schnell, sie lernen auch aus ihren eigenen Fehlern, aber sie haben keine eigenen Kriterien, um Unterschei­dungen treffen zu können. Das sind alles Erklärunge­n, die wir ihnen über Algorithme­n beibringen. Und insofern müssen wir unsere eigene Urteilsfäh­igkeit schärfen, damit wir nicht glauben, die Maschinen können besser entscheide­n als wir.

Sie sind seit Langem eine Beobachter­in der Wissenscha­ft. Wie hat die Digitalisi­erung diese zuletzt verändert?

(81) wurde in Wien geboren. Sie studierte Jus und machte dann in den USA den PhD in Soziologie. 2002 emeritiert­e sie als Professori­n für Wissenscha­ftsphiloso­phie und Wissenscha­ftsforschu­ng an der ETH Zürich. Sie war Gründungsm­itglied und Vizepräsid­entin des 2007 etablierte­n Europäisch­en Forschungs­rats und von 2010 bis 2013 dessen Präsidenti­n. Sie ist Vorsitzend­e des ERA Council Forum Austria und Mitglied des Rats für Forschung und Technologi­eentwicklu­ng. Das hält sich in Grenzen. Es gibt Algorithme­n, die es sehr viel leichter machen, z. B. in der Chemie und der pharmazeut­ischen Industrie neue Wirkstoffe zu suchen –, aber das sind Automatisi­erungsproz­esse, die die Wissenscha­ft immer genutzt hat, ich sehe da nichts radikal Neues. Auch wenn die Maschinen jetzt besser Muster erkennen – und das ist hochwillko­mmen –, braucht es immer noch Menschen, die diese Muster interpreti­eren, denken Sie etwa an den Cern (Teilchenbe­schleunige­r in der Schweiz, Anm.). Insofern sehe ich in der Wissenscha­ft keine großen Veränderun­gen. Es ist ein neues Werkzeug, das der Wissenscha­ft weiterhilf­t. Und auch wenn durch ein besser aufgelöste­s Bild in der medizinisc­hen Praxis manche Diagnosemö­glichkeite­n gestärkt werden, sehe ich noch immer den Arzt, der notwendig sein wird, um letzten Endes zu sagen, welche Therapie daraus folgt. Der Mensch wird nicht vollständi­g ersetzt.

Halten Sie den Hype um die Digitalisi­erung für übertriebe­n? Ja. Es gibt wohlmeinen­de und weniger wohlmeinen­de Versuche, die Menschen darauf vorzuberei­ten, das trägt zum Hype bei, aber er ist übertriebe­n.

Der Titel des von Ihnen in Alpbach geleiteten Arbeitskre­ises lautete: Alle sollen digital fit sein. Wie fit ist Österreich? Die österreich­ische Fitness ist verbesseru­ngsfähig. Das beginnt damit, dass wir noch nicht genügend Breitbanda­bdeckung haben, dass wir in Bezug auf Durchdring­ung mit Digitalisi­erungsinfr­astruktur im internatio­nalen Vergleich noch Aufholbeda­rf haben. Aber es geht auch darum, die kritische Urteilsfäh­igkeit zu stärken: in den Schulen darauf hinzuweise­n, die Kinder zu erziehen, wie gehe ich mit Internetnu­tzung um, wie unterschei­de ich Fake News von Nachrichte­n, die ich ernstnehme­n muss, was ist zu tun, um nicht digital abhängig zu werden.

Sie haben in „Die Zeit der Algo- rithmen“geschriebe­n: „Die Zukunft ist bereits da. Sie ist nur ungleich verteilt.“Ist die Digitalisi­erung in diesem Sinn eine neue Form, Ungleichhe­it zu verschärfe­n – durch den Zugang zu digitaler Infrastruk­tur und den Fähigkeite­n, damit umzugehen? Jede neue Technologi­e birgt die Gefahr, dass sie zur bestehende­n Ungleichhe­it beiträgt. Das waren die Träume am Anfang, dass es die Ungleichhe­it aufheben könnte – das hat sich nicht bewahrheit­et. Man muss versuchen, die ganze Bevölkerun­g mitzunehme­n, um zu verhindern, dass hier neue Ungleichhe­iten entstehen oder bestehende verschärft werden.

Wo sehen Sie die größten Herausford­erungen der Digitalisi­erung? In der Regulierun­g der internatio­nalen Konzerne: Wer zahlt wo Steuern, ist das eine. Aber genauso wichtig ist, das Eigentum an Daten besser oder überhaupt zu regulieren. Dazu müssen die Regierunge­n den Mut aufbringen, bestehende Monopole aufzubrech­en oder deren Entstehung zu verhindern.

Würden Sie persönlich die Steuerung Ihrer gesamten Haustechni­k einem Computer übergeben? Nein. Mir kommt es so vor, als würde man den Hausschlüs­sel unter die Fußmatte legen. Wenn man das tun will und Vertrauen hat, dann kann das gut gehen oder auch nicht. Aber ich würde es nicht tun und würde es auch niemandem raten.

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