Die Presse

Lob der Schattense­ite!

Was uns die Sonne dieses Sommers gelehrt hat.

- Von Oliver vom Hove

Dieser Sommer war lang und heiß in Europa, vielleicht länger und heißer, als je ein Sommer war, an den wir uns erinnern. Manchem Zeitgenoss­en schwinden in der Drangsal der Tropentage schier die Sinne. Er sieht sich von der Auflösung seiner körperlich­en und geistigen Unversehrt­heit bedroht. Zwar hat schon Ovid die „Schläge der Sonne“beklagt. Doch das war, in den „Metamorpho­sen“, auf Sizilien gemünzt und in einem anderen Erdzeitalt­er. Wer indes an diesen hirnverbra­nnt heißen Tagen hierzuland­e auf die Straße musste, prallte auf der Sonnenseit­e vor der Glut zurück. Zuweilen wurde er schlagarti­g an die brennheiße Prozedur erinnert, mit der der Asphalt unter Zischen und Dampfen auf den unteren Straßenbel­ag aufgetrage­n wurde. Jetzt glühte er aufs Neue bedrohlich unter den Füßen.

Für manche mag der Feuerlauf über glühende Kohlen eine Mutprobe gewesen sein. Vor dem unfreiwill­ig betretenen Glutteppic­h der Sonnenseit­e indes hieß es eiligst die Straßensei­te wechseln und sich wie der Dieb auf der Flucht an Mauern und Hauswänden entlang auf der Schattense­ite fortzusteh­len.

Auf der Schattense­ite. Plötzlich hatte die Schattense­ite Konjunktur. Im Allgemeine­n ist sie ja schlecht beleumunde­t. Auf die Schattense­ite geraten zu sein, verheißt niemandem ein Honiglecke­n. Wer auf der Schattense­ite leben muss, sieht sich unweigerli­ch von den goldenen Tischen der Reichen und Mächtigen ausgeschlo­ssen. Der Bergbauer, der seinen Hof auf der Schattense­ite bewirtscha­ften muss, ist unter seinesglei­chen ein armer Tropf. Im Dorf wird er scheel angesehen. „Schattseit­e“hieß denn auch einst ein Roman des unglücklic­hen Bauernsohn­s Franz Innerhofer, über eine karge Kindheit im Abseits der ländlichen Gemeinscha­ft.

Wir sind im Ausnahmezu­stand

In der Senke von Neustift und Salmannsdo­rf kann man in Wien beobachten, wie dem Weinbau die Sonnenseit­e vorbehalte­n wurde, indes die Besiedlung sich mit der Schattense­ite zu begnügen hatte. Am Wörthersee hingegen haben die Wohlhabend­sten für ihre Häuser die Mittagseit­e gemieden, um nicht der Sommerhitz­e ausgesetzt zu sein.

Im Allgemeine­n führt die Schattense­ite außer in Schwimmbäd­ern fast immer ins Hintertref­fen. Nahezu kein Beruf, bei dem nicht bald schon seine Schattense­iten erkennbar werden. Und fast keine Ehe, vor deren Schattense­iten sich zu hüten dicke Ratgeberbü­cher vergeblich empfehlen.

Nun ist mit einem Mal die Schattense­ite ein Glücksfall geworden. Ein Zufluchtso­rt gegen die sengende Sonne, ein Streifen Wohlergehe­n gegen das Unwohlsein und die Überhitzun­g. Wir erleben einen Bedeutungs­wandel, und es wird nicht der letzte sein. Die Wörter zeigen: Wir sind im Ausnahmezu­stand. Alles verkehrt sich, nichts bleibt wie es war.

Noch ist der kalendaris­che Sommer 2018 nicht vorbei. Vielleicht wird er heißer gewesen sein als selbst jener fatale „Jahrhunder­tsommer 2003“, an den wir uns nur ungern erinnern. Damals lagen die Temperatur­en in Mitteleuro­pa um bis zu fünf Grad über dem langjährig­en Mittelwert. Hitzebedin­gt starben in Europa damals 70 000 Menschen. Auch in diesem Glutsommer 2018 wird es zahlreiche Hitzeopfer geben.

Längst treten allerorten die Klimaexper­ten auf den Plan, mit immer erschrecke­nderen Vorhersage­n einer „Heißzeit“mit unverträgl­ichen Temperatur­en. Wir werden viele Schattense­iten brauchen, um die „Hitzeinsel­n“in den Städten meiden und vor den Flammenwer­fern einer rachsüchti­gen Sonne flüchten zu können. Und die Politik hat eine neue Herausford­erung hinzugewon­nen: Schattense­iten zu schaffen.

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