Lob der Schattenseite!
Was uns die Sonne dieses Sommers gelehrt hat.
Dieser Sommer war lang und heiß in Europa, vielleicht länger und heißer, als je ein Sommer war, an den wir uns erinnern. Manchem Zeitgenossen schwinden in der Drangsal der Tropentage schier die Sinne. Er sieht sich von der Auflösung seiner körperlichen und geistigen Unversehrtheit bedroht. Zwar hat schon Ovid die „Schläge der Sonne“beklagt. Doch das war, in den „Metamorphosen“, auf Sizilien gemünzt und in einem anderen Erdzeitalter. Wer indes an diesen hirnverbrannt heißen Tagen hierzulande auf die Straße musste, prallte auf der Sonnenseite vor der Glut zurück. Zuweilen wurde er schlagartig an die brennheiße Prozedur erinnert, mit der der Asphalt unter Zischen und Dampfen auf den unteren Straßenbelag aufgetragen wurde. Jetzt glühte er aufs Neue bedrohlich unter den Füßen.
Für manche mag der Feuerlauf über glühende Kohlen eine Mutprobe gewesen sein. Vor dem unfreiwillig betretenen Glutteppich der Sonnenseite indes hieß es eiligst die Straßenseite wechseln und sich wie der Dieb auf der Flucht an Mauern und Hauswänden entlang auf der Schattenseite fortzustehlen.
Auf der Schattenseite. Plötzlich hatte die Schattenseite Konjunktur. Im Allgemeinen ist sie ja schlecht beleumundet. Auf die Schattenseite geraten zu sein, verheißt niemandem ein Honiglecken. Wer auf der Schattenseite leben muss, sieht sich unweigerlich von den goldenen Tischen der Reichen und Mächtigen ausgeschlossen. Der Bergbauer, der seinen Hof auf der Schattenseite bewirtschaften muss, ist unter seinesgleichen ein armer Tropf. Im Dorf wird er scheel angesehen. „Schattseite“hieß denn auch einst ein Roman des unglücklichen Bauernsohns Franz Innerhofer, über eine karge Kindheit im Abseits der ländlichen Gemeinschaft.
Wir sind im Ausnahmezustand
In der Senke von Neustift und Salmannsdorf kann man in Wien beobachten, wie dem Weinbau die Sonnenseite vorbehalten wurde, indes die Besiedlung sich mit der Schattenseite zu begnügen hatte. Am Wörthersee hingegen haben die Wohlhabendsten für ihre Häuser die Mittagseite gemieden, um nicht der Sommerhitze ausgesetzt zu sein.
Im Allgemeinen führt die Schattenseite außer in Schwimmbädern fast immer ins Hintertreffen. Nahezu kein Beruf, bei dem nicht bald schon seine Schattenseiten erkennbar werden. Und fast keine Ehe, vor deren Schattenseiten sich zu hüten dicke Ratgeberbücher vergeblich empfehlen.
Nun ist mit einem Mal die Schattenseite ein Glücksfall geworden. Ein Zufluchtsort gegen die sengende Sonne, ein Streifen Wohlergehen gegen das Unwohlsein und die Überhitzung. Wir erleben einen Bedeutungswandel, und es wird nicht der letzte sein. Die Wörter zeigen: Wir sind im Ausnahmezustand. Alles verkehrt sich, nichts bleibt wie es war.
Noch ist der kalendarische Sommer 2018 nicht vorbei. Vielleicht wird er heißer gewesen sein als selbst jener fatale „Jahrhundertsommer 2003“, an den wir uns nur ungern erinnern. Damals lagen die Temperaturen in Mitteleuropa um bis zu fünf Grad über dem langjährigen Mittelwert. Hitzebedingt starben in Europa damals 70 000 Menschen. Auch in diesem Glutsommer 2018 wird es zahlreiche Hitzeopfer geben.
Längst treten allerorten die Klimaexperten auf den Plan, mit immer erschreckenderen Vorhersagen einer „Heißzeit“mit unverträglichen Temperaturen. Wir werden viele Schattenseiten brauchen, um die „Hitzeinseln“in den Städten meiden und vor den Flammenwerfern einer rachsüchtigen Sonne flüchten zu können. Und die Politik hat eine neue Herausforderung hinzugewonnen: Schattenseiten zu schaffen.