Darf’s ein Alzerl Lenin sein?
Ich vermisse ihn. Es ist jetzt schon ein Weilchen her, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Meine Sehnsucht nach ein bisschen Sozialismus – und warum ich meine Hoffnungen ausgerechnet auf die USA setze. Ein Aper¸cu zur Aufmunterung.
Er geht mir ab, ich vermisse ihn. Ich spüre eine große Leere. Ich glaube, ich kann nicht ohne ihn. Es ist jetzt schon ein Weilchen her, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Where have all the flowers gone . . . In Ansätzen wenigstens. Ohne Fleiß kein Preis. Ich denke an Experimentierstadien, Inselchen der Verbreitung, des Sprießens, des Aufbaus, des Glücks, der Freude, der Liebe. Ich sehne mich nach ein bisschen mehr Sozialismus auf der Welt.
Vor meinem geistigen Auge die Barrikaden der Pariser Commune, Kurt Eisners kurze Herrschaft 1918 in München, die ungarische Räterepublik nach dem Ersten Weltkrieg, und als Backgroundmusik zu all diesen kleinen europäischen, von der Konterrevolution niedergemetzelten Befreiungsversuchen die große Oktoberrevolution in Russland, die, von Bürgerkrieg, Hungersnot, internen Machtkämpfen gebeutelt, zu scheitern droht. An dieser Stelle der Name Trotzki, Lew Bronstein, für mich bis heute die prägende Gestalt dieser Epoche zur Rettung der Oktoberrevolution. Er ist der Kommandant der Roten Armee, die schließlich nach fünf Jahren Bürgerkrieg gegen ein Heer von 22 ausländischen, zur Unterstützung der russischen Konterrevolutionäre entsandten Interventionstruppen obsiegt.
Mani pulite, saubere Hände, sind in Zeiten des Umbruchs ein Ding der Unmöglichkeit. Ich finde es ganz und gar witzlos, Umbrüche, Umstürze, Revolutionen aus zeitlichem Abstand zu beurteilen, auf der einen Waagschale das bis dahin angeblich ruhige Dahingleiten durch die raue See der Geschichte, ein gutherziger Zar, Kaiser, Edelmann, auf der anderen der entfesselte Pöbel und Millionen Tote. Das ist der Erklärungsansatz von Kouponschneidern und Besit- zern von Briefkastenfirmen auf den Cayman Islands. Der Umbruch selbst ist das Urerlebnis, auf dem Marktplatz zu stehen und mitzuerleben, wie der verhasste Herrscher enthauptet wird, die Feste, die gefeiert werden, die Begrüßung der so inbrünstig herbeigesehnten neuen Zeit. Ich bin übrigens 1974 durch Portugal gefahren. Ein Land im Taumel der Befreiung. Wunderbar! Wer denkt da schon an Konterrevolution und neuerliche Kujonierung.
Ich würde also eine ordentliche Prise Anarchismus, sozialrevolutionäres Gedankengut, ein Alzerl von Lenin, nicht viel mehr von Trotzki, ganz, ganz wenig Stalin und Mao mitnehmen; demokratische Strukturen wären nicht schlecht, aber Garantien kann ich keine abgeben, denn die Konterrevolution schläft nie. Siehe Spanien 1939, Korea 1953, Vietnam 1956, Chile 1973. Einzige Ausnahme bislang Kuba. Das Resultat: von den Reaktionären aller Herren Länder boykottiert, ein trauriger, mitleiderregender Sozialismus. Ich war übrigens zwei Mal in Kuba.
Das vollkommen Überwältigende wird sein, dass die aufsehenerregenden neuen sozialistischen Ansätze aus den USA kommen, aus der am meisten entwickelten Industrienation der Welt, die, in ihrem kapitalistischen Schlamassel verfangen, nach Zukunftsperspektiven dürstet. Die amerikanische Gesellschaft, jung, zu Veränderungen bereit, wird sich aufbäumen und der Welt Alternativen aufzeigen. Verblüffend, nicht wahr, und dennoch hochlogisch.
Mir fällt auf, dass Chile 1973 das letzte sozialistische Aufbäumen gewesen ist. Seither Backlash, Revisionismus, Rollback. Statt Willy Brandt und Kreisky AfD und H.-C. Strache. Putin, Orban,´ Trump, Erdogan˘ die prägenden Gestalten, welche die Welt in Atem halten. Die Reaktion scheint derzeit auf dem Vormarsch, das ist wahr. Wer will in Zeiten wie diesen der Sowjetunion, den Ostblockländern, der DDR gar ein Tränlein nachweinen? Das ist das Dilemma, das ist mein Dilemma, der versiffte Charakter dieser bisherigen europäischen sozialistischen Experimente, die zu verteidigen ich mich nicht aufraffen will, wenngleich mir die Generation 1989 leidtut, die so große Hoffnungen auf den kapitalistischen Westen projizierte, aufs falsche Pferd setzte quasi.
Heutzutage ist alles anders. Die Generation meiner Kinder, die 20- bis 40-Jährigen, projizieren keinerlei Hoffnungen in die Zukunft, sie sind vom System enttäuscht, junge, wahlberechtigte Menschen zwischen 16 und 30 wählen irgendwelches rechtspopulistisches Gesindel, gießen quasi Öl ins Feuer der Reaktion, der Grundkonsens des gesellschaftlichen Zusammenhalts erodiert. Das ist ein notwendiges Durchgangsstadium.
Rein gefühlsmäßig meine ich, die jungen Menschen in den USA sind bereits ein Stück weiter, im Übergang vom Destruktiven zum Konstruktiven. Es wird Zeit brauchen, bis feststeht, wohin die sozialistische Reise des Landes geht, dann aber wird es kein Halten mehr geben.
Dass seit Chile 1973 nichts dauerhaft Sozialistisches mehr versucht wurde, war mir so gar nicht gegenwärtig. Jetzt haben wir schon 2018. Das ist jetzt 45 Jahre her. Ein Hammer! Ich zähle auf die USA.
Peter Zakravsky, Wiener des Jahrgangs 1952, studierte Rechtswissenschaften, Philosophie, Publizistik und Politologie in Wien. Dr. phil. Mitarbeit am Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, später 22 Jahre lang Reisetätigkeit für den Suhrkamp Verlag. Lebt in Wien.