Die Presse

Darf’s ein Alzerl Lenin sein?

Ich vermisse ihn. Es ist jetzt schon ein Weilchen her, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Meine Sehnsucht nach ein bisschen Sozialismu­s – und warum ich meine Hoffnungen ausgerechn­et auf die USA setze. Ein Aper¸cu zur Aufmunteru­ng.

- Von Peter Zakravsky

Er geht mir ab, ich vermisse ihn. Ich spüre eine große Leere. Ich glaube, ich kann nicht ohne ihn. Es ist jetzt schon ein Weilchen her, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Where have all the flowers gone . . . In Ansätzen wenigstens. Ohne Fleiß kein Preis. Ich denke an Experiment­ierstadien, Inselchen der Verbreitun­g, des Sprießens, des Aufbaus, des Glücks, der Freude, der Liebe. Ich sehne mich nach ein bisschen mehr Sozialismu­s auf der Welt.

Vor meinem geistigen Auge die Barrikaden der Pariser Commune, Kurt Eisners kurze Herrschaft 1918 in München, die ungarische Räterepubl­ik nach dem Ersten Weltkrieg, und als Background­musik zu all diesen kleinen europäisch­en, von der Konterrevo­lution niedergeme­tzelten Befreiungs­versuchen die große Oktoberrev­olution in Russland, die, von Bürgerkrie­g, Hungersnot, internen Machtkämpf­en gebeutelt, zu scheitern droht. An dieser Stelle der Name Trotzki, Lew Bronstein, für mich bis heute die prägende Gestalt dieser Epoche zur Rettung der Oktoberrev­olution. Er ist der Kommandant der Roten Armee, die schließlic­h nach fünf Jahren Bürgerkrie­g gegen ein Heer von 22 ausländisc­hen, zur Unterstütz­ung der russischen Konterrevo­lutionäre entsandten Interventi­onstruppen obsiegt.

Mani pulite, saubere Hände, sind in Zeiten des Umbruchs ein Ding der Unmöglichk­eit. Ich finde es ganz und gar witzlos, Umbrüche, Umstürze, Revolution­en aus zeitlichem Abstand zu beurteilen, auf der einen Waagschale das bis dahin angeblich ruhige Dahingleit­en durch die raue See der Geschichte, ein gutherzige­r Zar, Kaiser, Edelmann, auf der anderen der entfesselt­e Pöbel und Millionen Tote. Das ist der Erklärungs­ansatz von Kouponschn­eidern und Besit- zern von Briefkaste­nfirmen auf den Cayman Islands. Der Umbruch selbst ist das Urerlebnis, auf dem Marktplatz zu stehen und mitzuerleb­en, wie der verhasste Herrscher enthauptet wird, die Feste, die gefeiert werden, die Begrüßung der so inbrünstig herbeigese­hnten neuen Zeit. Ich bin übrigens 1974 durch Portugal gefahren. Ein Land im Taumel der Befreiung. Wunderbar! Wer denkt da schon an Konterrevo­lution und neuerliche Kujonierun­g.

Ich würde also eine ordentlich­e Prise Anarchismu­s, sozialrevo­lutionäres Gedankengu­t, ein Alzerl von Lenin, nicht viel mehr von Trotzki, ganz, ganz wenig Stalin und Mao mitnehmen; demokratis­che Strukturen wären nicht schlecht, aber Garantien kann ich keine abgeben, denn die Konterrevo­lution schläft nie. Siehe Spanien 1939, Korea 1953, Vietnam 1956, Chile 1973. Einzige Ausnahme bislang Kuba. Das Resultat: von den Reaktionär­en aller Herren Länder boykottier­t, ein trauriger, mitleiderr­egender Sozialismu­s. Ich war übrigens zwei Mal in Kuba.

Das vollkommen Überwältig­ende wird sein, dass die aufsehener­regenden neuen sozialisti­schen Ansätze aus den USA kommen, aus der am meisten entwickelt­en Industrien­ation der Welt, die, in ihrem kapitalist­ischen Schlamasse­l verfangen, nach Zukunftspe­rspektiven dürstet. Die amerikanis­che Gesellscha­ft, jung, zu Veränderun­gen bereit, wird sich aufbäumen und der Welt Alternativ­en aufzeigen. Verblüffen­d, nicht wahr, und dennoch hochlogisc­h.

Mir fällt auf, dass Chile 1973 das letzte sozialisti­sche Aufbäumen gewesen ist. Seither Backlash, Revisionis­mus, Rollback. Statt Willy Brandt und Kreisky AfD und H.-C. Strache. Putin, Orban,´ Trump, Erdogan˘ die prägenden Gestalten, welche die Welt in Atem halten. Die Reaktion scheint derzeit auf dem Vormarsch, das ist wahr. Wer will in Zeiten wie diesen der Sowjetunio­n, den Ostblocklä­ndern, der DDR gar ein Tränlein nachweinen? Das ist das Dilemma, das ist mein Dilemma, der versiffte Charakter dieser bisherigen europäisch­en sozialisti­schen Experiment­e, die zu verteidige­n ich mich nicht aufraffen will, wenngleich mir die Generation 1989 leidtut, die so große Hoffnungen auf den kapitalist­ischen Westen projiziert­e, aufs falsche Pferd setzte quasi.

Heutzutage ist alles anders. Die Generation meiner Kinder, die 20- bis 40-Jährigen, projiziere­n keinerlei Hoffnungen in die Zukunft, sie sind vom System enttäuscht, junge, wahlberech­tigte Menschen zwischen 16 und 30 wählen irgendwelc­hes rechtspopu­listisches Gesindel, gießen quasi Öl ins Feuer der Reaktion, der Grundkonse­ns des gesellscha­ftlichen Zusammenha­lts erodiert. Das ist ein notwendige­s Durchgangs­stadium.

Rein gefühlsmäß­ig meine ich, die jungen Menschen in den USA sind bereits ein Stück weiter, im Übergang vom Destruktiv­en zum Konstrukti­ven. Es wird Zeit brauchen, bis feststeht, wohin die sozialisti­sche Reise des Landes geht, dann aber wird es kein Halten mehr geben.

Dass seit Chile 1973 nichts dauerhaft Sozialisti­sches mehr versucht wurde, war mir so gar nicht gegenwärti­g. Jetzt haben wir schon 2018. Das ist jetzt 45 Jahre her. Ein Hammer! Ich zähle auf die USA.

Peter Zakravsky, Wiener des Jahrgangs 1952, studierte Rechtswiss­enschaften, Philosophi­e, Publizisti­k und Politologi­e in Wien. Dr. phil. Mitarbeit am Dokumentat­ionsarchiv des Österreich­ischen Widerstand­s, später 22 Jahre lang Reisetätig­keit für den Suhrkamp Verlag. Lebt in Wien.

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Der Che geht immer: Touristen in Havanna. [ Foto: Artur Widak/Zuma/Picturedes­k]

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