Heute schon Kröten gezählt?
„Expedition Europa“: wie man in Belgien Natur kompensiert.
Das Buch eines flämischen Weltreporters brachte mich auf diesen abseitigen Konflikt. In „Dit is mijn hof“erzählt Chris de Stoop, wie sich der zweitgrößte europäische Hafen immer weiter die Schelde hinauffrisst. Neben 224 Millionen Tonnen Jahresumschlag umfasst der Antwerpener Hafen auch immer mehr Fabriken, darunter den größten Chemiecluster Europas. Seit den Nullerjahren ist der Hafen verpflichtet, für jeden Ausbau „Naturkompensation“zu leisten. Das benötigte Land wird von der Landwirtschaft genommen. Einige Bauern verkaufen teuer und werden Privatiers in neuen Kieldrechter Einfamilienhäusern. Andere werden enteignet. Ihnen leiht Chris de Stoop seine Stimme. Traurig und zornig sieht der Bauernsohn zu, wie das alte Kulturland in „Unkraut und Schwemmland“verwandelt wird, in „ein Paradies für Schleimpilze“.
Als ich am Morgen in de Stoops Waasland komme, überrascht mich die Intensität der Landwirtschaft. Große Hallen neben kleinen Höfen, große Nutzmaschinen, dazwischen Inselchen von Feuchtbiotopen. In einem aufgelassenen Bauernhof besuche ich den „Natuurpunt“, der im Buch den Hort der bornierten Öko-Wappler abgibt. Jan Dhollander, ein pensionierter Apotheker, steht mir Rede und Antwort. Ich frage ihn: „Sehen Sie hier immer noch Betonbauern und Naturschänder?“– „Es hat sich sehr gebessert. Die Bauern laden nicht mehr Schutt und Plastik an den geschützten Wasserläufen ab. Eine Spannung bleibt aber bestehen. Sie streuen ihren Mist bis zu fünf Meter an die Wasserläufe. Wir verlangen 100 Meter Abstand.“
Ich überprüfe die unglaublichsten Behauptungen aus dem Buch: „Zahlt der Hafen wirklich zwei Mitarbeitern vom Natuurpunt das Gehalt?“– „Ja, das stimmt.“– „Wie viele Bauern wurden enteignet?“– „Über 60 Jahre waren das sicher Hunderte.“– „Wird wirklich gezählt, ob die Kreuzkröten-Population am linken Scheldeufer 800 singende Männchen aufweist?“– „Ja. Das macht eine flämische Behörde, die 200 Leute beschäftigt.“Gerne würde ich den Kreuzkröten lauschen, denen der Hafen 50 Tümpel finanziert hat, doch bin ich zu spät dran. Die Kreuzkröten singen im Frühsommer.
Neue Heimat für Uferschnepfen
QDas Antwerpener Arrangement zwischen Hafen und Ökos ist für Dhollander „ein Vorbild, in Hamburg und Le Havre gibt’s immer noch Konflikte“. Die Flächen, die der Natuurpunt dem Hafen zur Naturkompensation vorschlägt, sind komplex zu verwalten: Auch innerhalb des Hafens muss fünf Prozent Natur geschaffen werden, zudem gibt es „Natur auf Zeit“. „Der Bau des Deurganckdocks stand 2001 ein Jahr lang still, weil Europa vorschreibt, dass 50 Uferschnepfen aus dem Hafengelände eine neue Heimat zugewiesen kriegen müssen.“Da den angeworbenen Füchsen die Eier der Uferschnepfe schmecken, mussten Elektrozäune her. Ohne dass ich fragen muss, seufzt der pensionierte Apotheker auf: „Natürlich ist das alles sehr künstlich.“
Ich fahre in die kompensierte Natur. Auf dem Weg überrascht mich wieder die Existenz von Landwirtschaft. Die kompensierten Flächen liegen meist direkt unter dem Begrenzungsdamm des Hafens, dahinter gewaltige Kräne. In den verwahrlosten Häusern des enteigneten Weilers Putten hausen Spinner; auf einem zwischen Bäumen aufgehängten Floß steht ein vergammelter Wohnwagen. Auch der Prosperpolder grenzt an den Hafen, an geparkte LKW-Zugmaschinen. Daneben stehen Schafe im Schatten eines Anhängers, daneben landen Brutvögel in Teichen, daneben ein undurchdringliches Dickicht. Die „Verwaltungskommission“erklärt jeden kompensierten Hektar auf Schautafeln. Und jedes Stück Natur ist von Stacheldraht begrenzt. Von Martin Leidenfrost