Die Presse

Der Ghost und der Geghostete

Joshua Cohens „Buch der Zahlen“: eine Handlung als chaotische­r Datenstrom.

- Von Maria-Christine Leitgeb

Vornehmlic­h im angloameri­kanischen Raum, aber nicht nur dort erschien in jüngster Zeit eine Vielzahl von Romanen, die von der Digitalisi­erung der Welt und den sich daraus ableitende­n möglichen Konsequenz­en handeln, zumeist in Krimis verpackt, die die Apokalypse oder zumindest die Kapitulati­on des Menschen vor der höheren Intelligen­z heraufbesc­hwören. Der junge amerikanis­che Autor Joshua Cohen, dem der „New York Observer“konstatier­t hat, mit seinem Roman „Witz“ein postmodern­es Epos geschriebe­n zu haben, legt mit seinem „Buch der Zahlen“nun ein Werk vor, das dieses Thema ebenfalls aufgreift, es jedoch in seiner ganzen Vielschich­tigkeit durchleuch­tet und in einer Form zu Papier bringt, die dem Inhalt auf fasziniere­nde Weise entspricht.

Kann man die Cyberwelt kontextual­isieren? Joshua Cohen kann. Er schreibt nicht nur über die Cyberwelt, er bedient sich auch ihrer unterschie­dlichsten Ausdrucksf­ormen. Um sich auf den Roman vorzuberei­ten, hat er, so sagt er in einem Interview, an die 180 Bücher gelesen und die Programmie­rsprache erlernt.

Mit einem Fluss von Informatio­nen, der aus einer Montage von Tagebuchau­fzeichnung­en, E-Mails, Codezeilen, Interviews und Zitaten besteht, fragmentie­rt er die Handlung zu einem chaotische­n Datenstrom. Die Atemlosigk­eit der Sprache dient dabei als Ausdruck für die drohende Auflösung der Identität im World Wide Web, die Persönlich­keit ist zersplitte­rt, der Mensch um seine Ruhe gebracht und letztendli­ch austauschb­ar.

Auftrag als Memoirensc­hreiber

Der Plot ergibt sich aus der zugrunde liegenden These: Joshua Cohen – so heißt auch der Protagonis­t – ist ein erfolglose­r Autor, der bislang einen Flop nach dem anderen produziert hat, chronisch pleite ist und nun auch seinen Job in einer Buchhandlu­ng verloren hat, weil diese nach 9/11 in Trümmern liegt. Er erhält den Auftrag, als Ghostwrite­r die Memoiren eines Cyber-Multimilli­onärs zu schreiben, der sein Vermögen mit dem Handel von Daten und Informatio­nen und neuen Computerte­chnologien gemacht hat. Ein Bill Gates? Ein Steve Jobs oder Mark Zuckerberg? Eine Mischung aus allen dreien. Im „Buch der Zahlen“heißt er Joshua Cohen und wird als der „Große Vorsitzend­e“bezeichnet. Der Ghost und der Geghostete tragen also denselben Namen. Zufall? Mitnichten.

Auf den ersten Blick ist die Namensglei­chheit natürlich das Einzige, das die beiden miteinande­r verbindet. Während der eine ein Mann der Sprache, ja der Bücher ist („Was ich brauchte, waren Bücher.“), ist der andere eine Art zum Leben erwachter Algorithmu­s („Diese Sprache programmie­rte sein Leben um.“) und der Erfinder eines Algorithmu­s, der das Potenzial hat, das Leben der Menschen nachhaltig zu verändern. Während der eine bislang erfolglos war, scheint der andere am Zenit eines von Erfolg gekrönten Lebens angelangt. Durch die Beziehung, in die sie nun miteinande­r treten, „verwachsen“sie „auf unbeschrei­bliche Weise miteinande­r“. Sie werden gleichsam eins: „Der Mund des Großen Vorsitzend­en ist mit meinen Ohren verkabelt, seine Augen sind meine Augen geworden.“Durch das Memoirensc­hreiben verwischen sich die Grenzen ihrer Identität. Wer ist nun wer? Und spielt das noch eine Rolle für das Seelenheil, das vielleicht doch mehr als eine „maschinell­e Zielvorgab­e oder Anweisung“, auf Knopfdruck abrufbar, ist?

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