Der Ghost und der Geghostete
Joshua Cohens „Buch der Zahlen“: eine Handlung als chaotischer Datenstrom.
Vornehmlich im angloamerikanischen Raum, aber nicht nur dort erschien in jüngster Zeit eine Vielzahl von Romanen, die von der Digitalisierung der Welt und den sich daraus ableitenden möglichen Konsequenzen handeln, zumeist in Krimis verpackt, die die Apokalypse oder zumindest die Kapitulation des Menschen vor der höheren Intelligenz heraufbeschwören. Der junge amerikanische Autor Joshua Cohen, dem der „New York Observer“konstatiert hat, mit seinem Roman „Witz“ein postmodernes Epos geschrieben zu haben, legt mit seinem „Buch der Zahlen“nun ein Werk vor, das dieses Thema ebenfalls aufgreift, es jedoch in seiner ganzen Vielschichtigkeit durchleuchtet und in einer Form zu Papier bringt, die dem Inhalt auf faszinierende Weise entspricht.
Kann man die Cyberwelt kontextualisieren? Joshua Cohen kann. Er schreibt nicht nur über die Cyberwelt, er bedient sich auch ihrer unterschiedlichsten Ausdrucksformen. Um sich auf den Roman vorzubereiten, hat er, so sagt er in einem Interview, an die 180 Bücher gelesen und die Programmiersprache erlernt.
Mit einem Fluss von Informationen, der aus einer Montage von Tagebuchaufzeichnungen, E-Mails, Codezeilen, Interviews und Zitaten besteht, fragmentiert er die Handlung zu einem chaotischen Datenstrom. Die Atemlosigkeit der Sprache dient dabei als Ausdruck für die drohende Auflösung der Identität im World Wide Web, die Persönlichkeit ist zersplittert, der Mensch um seine Ruhe gebracht und letztendlich austauschbar.
Auftrag als Memoirenschreiber
Der Plot ergibt sich aus der zugrunde liegenden These: Joshua Cohen – so heißt auch der Protagonist – ist ein erfolgloser Autor, der bislang einen Flop nach dem anderen produziert hat, chronisch pleite ist und nun auch seinen Job in einer Buchhandlung verloren hat, weil diese nach 9/11 in Trümmern liegt. Er erhält den Auftrag, als Ghostwriter die Memoiren eines Cyber-Multimillionärs zu schreiben, der sein Vermögen mit dem Handel von Daten und Informationen und neuen Computertechnologien gemacht hat. Ein Bill Gates? Ein Steve Jobs oder Mark Zuckerberg? Eine Mischung aus allen dreien. Im „Buch der Zahlen“heißt er Joshua Cohen und wird als der „Große Vorsitzende“bezeichnet. Der Ghost und der Geghostete tragen also denselben Namen. Zufall? Mitnichten.
Auf den ersten Blick ist die Namensgleichheit natürlich das Einzige, das die beiden miteinander verbindet. Während der eine ein Mann der Sprache, ja der Bücher ist („Was ich brauchte, waren Bücher.“), ist der andere eine Art zum Leben erwachter Algorithmus („Diese Sprache programmierte sein Leben um.“) und der Erfinder eines Algorithmus, der das Potenzial hat, das Leben der Menschen nachhaltig zu verändern. Während der eine bislang erfolglos war, scheint der andere am Zenit eines von Erfolg gekrönten Lebens angelangt. Durch die Beziehung, in die sie nun miteinander treten, „verwachsen“sie „auf unbeschreibliche Weise miteinander“. Sie werden gleichsam eins: „Der Mund des Großen Vorsitzenden ist mit meinen Ohren verkabelt, seine Augen sind meine Augen geworden.“Durch das Memoirenschreiben verwischen sich die Grenzen ihrer Identität. Wer ist nun wer? Und spielt das noch eine Rolle für das Seelenheil, das vielleicht doch mehr als eine „maschinelle Zielvorgabe oder Anweisung“, auf Knopfdruck abrufbar, ist?