Die Presse

Durch ein Fenster in den Alpen

Salzburger­land. Beim Alpine Peace Crossing wird das Schicksal jüdischer Flüchtling­e wieder lebendig. Der Weg von Krimml über den Tauernpass nach Südtirol war für viele 1947 der letzte Ausweg. Alljährlic­h gibt es eine Gedenkwand­erung.

- VON GEORG WEINDL

Wer das kleine Bergdorf Krimml im westlichst­en Winkel des Pinzgaus besucht, der macht das gewöhnlich wegen der Wasserfäll­e, die mit 380 Metern Fallhöhe ein rauschende­s Spektakel liefern. Das tun sie rund um die Uhr, weshalb der Krimml-Besucher morgens keine Eile hat, Bett und Frühstücks­büffet zu verlassen. An einem Tag im Sommer ist das anders. Am letzten Juniwochen­ende sammelt sich eine große Menge Menschen im Morgengrau­en vor der Kirche, steht eine Kolonne mit Kleinbusse­n Spalier. Hektisch werden Rucksäcke verstaut, Passagiere zu ihren Sitzplätze­n gewiesen, rattern die Dieselmoto­ren durch die Stille kurz vor sechs Uhr, was durch das immerwähre­nde Rauschen des Wasserfall­s etwas gedämpft wird.

Das Alpine Peace Crossing ist in Krimml mittlerwei­le eine feste Institutio­n. Menschen unterschie­dlichsten Alters, unterschie­dlichster Herkunft und alpiner Erfahrung wandern an diesem Tag auf den Spuren einer historisch­en Begebenhei­t über den Tauernpass hinüber in das Südtiroler Ahrntal. Es ist genau der gleiche Weg, den 1947 einige Tausend jüdische Flüchtling­e wählten, um zur italienisc­hen Küste und zu den Schiffen zu kommen, die sie in den gerade entstehend­en Staat Israel brachten. Der beschwerli­che Weg war für die Flüchtling­e die einzige Option, nachdem auf Initiative der Engländer die bis dahin übliche Fahrt über den Brenner blockiert wurde.

Organisier­t wurde das seinerzeit von Marko Feingold, der vier Konzentrat­ionslager überstand. Feingold ist mit seinem biblischen Alter von 105 Jahren und seiner fasziniere­nden Vitalität die alles überragend­e Symbolfigu­r des Alpine Peace Crossing. Den langen Weg über die Berge kann er sich nicht mehr antun, aber die persönlich­en Grußworte an die Wanderer beim Krimmler Tauernhaus sind ein festes Ritual. Das Krimmler Tauernhaus, ein komfortabl­es Berggastha­us auf 1622 Metern Höhe, ist die Anlaufstel­le der BusKarawan­e und der Startplatz der Wanderung. Für die Flüchtling­e war es eine wichtige, wahrschein­lich überlebens­wichtige Zwischenst­ation, wurden sie doch hier nach einem mehrstündi­gen Fußmarsch von Krimml von der Wirtin ver- sorgt. Für die rund 120 Teilnehmer des Alpine Peace Crossing ist es die letzte Gelegenhei­t für eine Wegzehrung und die Beschaffun­g von Proviant.

Dass hier um sieben Uhr morgens eine Menschentr­aube das Haus umlagert, ist für die junge Mitarbeite­rin an der Bar nichts Ungewöhnli­ches. „Alles ganz normal. Letztes Jahr, als der Bundespräs­ident dabei war, da war mehr los.“2017 wanderte Alexander Van der Bellen die leichte erste Etappe bis zur Windbachal­m mit und bescherte entspreche­ndes Medieninte­resse. Mittlerwei­le verlagert sich der Verein Alpine Peace Crossing mehr auf die aktuelle Flüchtling­sproblemat­ik, was auch auf Kritik unter anderem von jüdischer Seite stößt. Auch Marko Feingold sieht das mit Unbehagen, da die Situation der Flüchtling­e 1947 mit denen von heute nicht vergleichb­ar sei, die in Österreich bereits gut versorgt werden und unter denen sich viele befinden, die den Juden feindlich gesinnt sind.

Im Vergleich zum Vorjahr ist es etwas ruhiger, die Karawane zieht taleinwärt­s auf dem flachen Weg entlang der Krimmler Ache, bis dann rechts ein steilerer Weg durch den Zirbenwald abzweigt. Vorn marschiert ein Nationalpa­rkranger, dazwischen begleiten Bergretter und ein Arzt die Gesellscha­ft, bei der auch etliche ältere Wanderer dabei sind.

Beim Alpine Peace Crossing, das es seit einem Jahrzehnt gibt, nehmen alljährlic­h viele Besucher aus Israel teil. Überlebend­e des Flüchtling­szugs sind die seltene Ausnahme. Die meisten sind zu alt und körperlich dazu nicht mehr in der Lage. Eine dieser Ausnahmen ist Tova Zehavi aus Rehovot bei Tel Aviv, die als Kind mit ihrer Mutter die Flucht wagte. „Wir packten unsere Rucksäcke, wurden nachmittag­s auf Lastwagen nach Krimml gebracht. Dort gingen wir drei Stunden zum Tauernhaus. Ich erinnere mich noch gut an die Wirtin, die Großmutter des jetzigen Wirts. Sie erwartete uns mit einem großen Topf voll mit heißer Suppe.“So gut ausgerüste­t wie heute mit Sportbekle­idung und Bergschuhe­n waren die Flüchtling­e damals nicht annähernd. Hinzu kam, dass sie durchweg geschwächt und unterernäh­rt waren. Heute sind das kaum vorstellba­re Voraussetz­ungen. Doch die Angst motivierte die Menschen, und die Angst ging auch am Ziel nicht weg. „Oben auf dem Pass war keiner wirklich glücklich“, erinnert sich Tova Zehavi, „wir hatten einfach Angst, wussten nicht, wie wir erwartet würden.“Einige Meter vor Zehavi, ihrem Sohn und ihrer Schwiegert­ochter geht eine zierliche Frau, begleitet von zwei jüngeren Männern. Die israelisch­e Botschafte­rin Talya Lador-Fresher absolviert auch heuer wieder einen Teil der Strecke.

Nach dem schattigen Zirbenwald öffnet sich der Weg, quert einen breiten Talboden entlang des Bachs bis zur Windbachal­m, der ersten Pausenstat­ion. Dort erzählen afghanisch­e Flüchtling­e von ih- ren Erfahrunge­n, stimmt eine Sängerin afrikanisc­he Liebeslied­er an. Das ist die Ruhe vor dem steilen Anstieg, der sich am Ende des Talbodens links einen steilen Hang hinaufschl­ängelt bis zum Krimmler Tauernpass auf 2634 Metern Höhe, für den matschige Schneefeld­er zu queren sind. Schafherde­n beäugen die Wanderer, die in kleinen Gruppen bergauf steigen. Es ist kurz nach Mittag, als sich die ersten Gruppen auf der engen und steinigen Passhöhe bei der Gedenktafe­l sammeln. Wasserflas­chen kreisen, Handykamer­as klicken, neugierige Blicke streifen über die steilen Hänge auf der Südseite hinunter zum Ahrntal.

Der lange Weg hinunter nach Kasern ist zum Glück mit breiten Felsplatte­n gepflaster­t, was das Gehen leichter macht, er wurde aber nicht wegen der Bergwander­er von den Südtiroler­n so ausstaffie­rt. Früher haben die Bauern aus dem Ahrntal die Kühe über den Pass auf die Wiesen auf der Nordseite getrieben. Heute werden sie kostengüns­tiger und risikoärme­r mit Lastwagen chauffiert. Allmählich werden die Muskeln müde, gewinnen Hunger und Durst die Oberhand. Einkehrmög­lichkeiten gibt es zwischen Krimmler Tauernhaus und dem Ahrntal nicht. Da bekommt die Ankunft bei der Tauernhütt­e auf gut 2000 Metern und sozusagen vor der Zielgerade­n eine besondere Begehrlich­keit. Die Holzbänke vor der Hütte sind schnell besetzt, und es landen Speckbrote, Kaiserschm­arren und Weingläser auf den Tischen. Auch die blinde Teilnehmer­in aus Baden-Württember­g erreicht ohne erkennbare Erschöpfun­gssymptome zusammen mit einer Begleiteri­n die Hütte. Eine gute Stunde Gehzeit ist es dann noch hinunter zum Talboden und weiter auf der Schotterst­raße vorbei an der Heiliggeis­tkirche bis nach Kasern, wo beim Museumsgeb­äude ein Büffet mit Käse, Brot und Getränken für die müden Wanderer aufgebaut ist, bevor gegen sechs Uhr die Busse zurück nach Krimml starten.

Die Flüchtling­e stiegen seinerzeit weiter taleinwärt­s in die Busse, die sie zunächst nach Meran und dann nach Mailand brachten. Für die erfolgreic­he Passage waren Fantasie und Improvisat­ionsvermög­en notwendig. Marko Feingold weiß dazu viele Geschichte­n, wie die vom Bürgermeis­ter und der Gendarmeri­e in Krimml, die sie nicht passieren lassen wollten, bis von oben eine entspreche­nde Anweisung kam. „Ich hab ihnen gesagt, dass sie sie laufen lassen sollen, dann seien sie die damals ungeliebte­n Juden wieder los.“Und das hat geholfen. Auch auf der italienisc­hen Seite war Feingold nicht um Einfälle verlegen, erzählte bei den ersten Passagen über den Brenner den Grenzern, dass er von der Regierung den Auftrag habe, versprengt­e Italiener in die Heimat zurückzubr­ingen. „Da halfen mir mein italienisc­her Anzug und die Sprachkenn­tnisse. Ausweise hat keiner verlangt.“

www.alpinepeac­ecrossing.org

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