Sag mir, wo ist die Opposition zur Regierung, wo ist sie geblieben?
Bundespräsident, Justiz und Medien müssen nach der Selbstaufgabe der SPÖ die existenziell wichtige Aufgabe der Kontrolle der Koalition übernehmen.
Der eine will nicht jeden Tag in der Früh nachdenken, was oder wen er schon wieder kritisieren müsse, will sich nicht täglich in kleinen Dosen selbst vergiften. Der andere will nicht „mit dem Bihänder auf Leute eindreschen müssen“. Beide sehen die Demokratie in Gefahr und setzen sich ab.
Die Begründungen von Neos-Gründer Matthias Strolz und Noch-SPÖ-Chef Christian Kern für ihren Rückzug aus der österreichischen Politik sollten nachdenklich stimmen – und zwar nicht wegen des „gnadenlosen“Geschäfts der Spitzenpolitik, gar nicht. Stutzig sollte uns die Einstellung zur Oppositionsarbeit machen. Verlangt die Öffentlichkeit von Parteien, die nicht in der Regierung vertreten sind, wirklich nicht mehr als den täglichen Angriff auf die Regierenden? Mit oder ohne doppeltes Schwert, das mit Wucht nur beidhändig geführt werden kann. Will die Öffentlichkeit tatsächlich immer nur Blut sehen? Geht ohne Untergriffe und verbale Dauersalven in der Politik gar nichts mehr?
Gut, das war ein Rezept der FPÖ, mit dem sie sich zwölf Jahre lang fit gemacht hat für die Regierungsbeteiligung 2017. Für sie wirkte es. Davon muss man aber nicht ableiten, dass Rabaukentum und Verbalinjurien zu den Kernkompetenzen politischer Kontrollparteien gehören.
Zuspitzungen sind unverzichtbar im Zeitalter der Überschriften und markanten Sprüche, die eine oder andere Provokation auch, um gehört zu werden. Dieses Geschäft beherrschte die FPÖ nach 2005 unter Heinz Christian Strache so gut, dass sie im Lauf der letzten zwölf Jahre von vielen als „starke Opposition“wahrgenommen wurde.
Warum aber ausgerechnet Strolz und Kern glauben, sich die FPÖ zum Vorbild nehmen zu müssen, und nicht in Alternativen dachten, bleibt ein Rätsel. In Österreich sorgt kein häufiger Machtwechsel für die Beschränkung von politischen Begehrlichkeiten. Deshalb ist der Sinn von Opposition doch ein anderer: Kontrolle der Macht. Diese erfordert mühselige Sacharbeit, Klein-Klein-Politik im Parlament, das permanente Ausarbeiten von Alternativen zu den jeweiligen Plänen der Regierung – und eine ganz hohe Frustrationstoleranz, weil lange Zeit die erhoffte Resonanz in der Öffentlichkeit fehlen wird.
Ist es naiv, im Zeitalter der Polarisierung ruhige politische Arbeit zu verlangen? Ja! Ist es weltfremd, zum Verzicht auf den raschen politischen Erfolg aufzufordern? Ja! Könnte man der Demokratie einen größeren Dienst erweisen? Nein! Strolz hat in einem Interview eindringlich vor ihrer Gefährdung gewarnt. Eine Frage drängte sich auf: Wenn alles so schlimm kommen kann, warum setzen Sie sich dann ab? Sie ist bis heute unbeantwortet geblieben.
Wir sollten die Gelegenheit, die diese eigenartig trotzigen Entscheidungen von zwei Oppositionsführern bietet, ergreifen: Denken wir nach, was die Bevölkerung, was die Medien eigentlich von Oppositionspolitikern verlangen und erwarten. Was ist unser Anteil daran, dass manchen von ihnen so schnell der Atem ausgeht? Wie müssen wir umdenken? Was gilt es zu ändern?
Es ist fatal, dass jetzt der Eindruck entstanden ist, der Erfolg von Oppositionsarbeit hänge von der Lautstärke des täglichen Gekläffs ab. Wenn die SPÖ diese Arbeit nicht leisten will und die Neos es nicht können, wer übernimmt diese Aufgabe? Sie wird Bundespräsident, Justiz, Medien fordern. An ihnen wird es jetzt liegen, Glaubwürdigkeit und Vertrauen in die Kontrolle wieder aufzubauen und zu schützen.
Das ist kurzfristig gesehen eine Herkulesaufgabe, denn von der Regierung ist im Überschwang ihrer neuen Macht zu erwarten, dass sie jede Kritik entweder abschätzig als „links“oder als unbotmäßig diskreditieren wird. Sich als Gegengewicht zu etablieren, wird von Alexander Van der Bellen Fingerspitzengefühl, von der Justiz Rückgrat und von den Medien Sorgfalt verlangen. Andernfalls wird der Demokratie täglich eine Dosis Selbstvergiftung verabreicht.