Die Presse

Erinnerung an einen Nobelpreis

10 Autoren aus 118 Jahren. Heute sollte der Literaturn­obelpreis verliehen werden, nach Skandalen und internen Querelen fällt er aus. Dafür erinnert „Die Presse“an ein paar erstaunlic­he Preisträge­r von einst.

- [Reuters, APA (2), EPA (2), Archiv (2), picturedes­k.com (3) ]

Heute sollte der Literaturn­obelpreis verliehen werden, nach Skandalen und internen Querelen fällt er aus. 118 Mal wurde er verliehen, an zum Teil erstaunlic­he Autoren.

Der Gequälte

1958. Im Kalten Krieg glaubte man an die Wirkung von Büchern: „Doktor Schiwago“wurde zur Waffe der Weltpoliti­k, an seiner Veröffentl­ichung und Verbreitun­g hatte die CIA, wie neue Dokumente zeigen, beträchtli­chen Anteil. Da der Roman in Russland nicht erscheinen konnte, stimmte Boris Pasternak schließlic­h einer Veröffentl­ichung im Westen zu („Möge der Text um die Welt gehen“). Ein Jahr danach, 1958, erhielt der in der Künstlerko­lonie Peredelkin­o bei Moskau lebende, 68-jährige Autor den Literaturn­obelpreis dafür. Auf sowjetisch­en Druck musste er den Preis zurückweis­en – dieser erwies sich dennoch als lebensgefä­hrlich für ihn: Die Sowjetkamp­agnen gegen Pasternak wurden in der Folge so furchtbar, dass sie den Autor krank machten und fast in den Selbstmord trieben. Er starb bald, 1960.

Die Erste

1909. Ein Schulbuch über Schweden wollte man von ihr, der bereits etablierte­n Schriftste­llerin, es erschien 1906: „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“wurde eines der beliebtest­en Kinderbüch­er der Welt. Heftig diskutiert­e man bald danach, ob man Selma Lagerlöf den Literaturn­obelpreis geben solle; ihr Hang zum Magischen war immerhin gar nicht zeitgemäß. 1909 erhielt sie ihn, als erste Frau, nach acht Männern. Nicht nur hier war Lagerlöf eine Vorreiteri­n, auch als Frauenrech­tlerin. Sie selbst hatte sich gegen den Willen des Vaters Bildung ertrotzt, beeindruck­te auch als furchtlose Reisende oder Gutsbesitz­erin. Ihr Werk ist voll von starken, sich gegen schwache, unfähige Männer durchsetze­nden Frauen.

Der Unmoralisc­he

1920. Ein Preisträge­r greift bei der Feier in Stockholm einer Frau an die Brust und ruft: „Das klingt wie eine Glockenboj­e!“Was würde heute mit ihm passieren, zumal nach dem Skandal rund um sexuelle Belästigun­g (laut neuestem Gerichtsur­teil sogar Vergewalti­gung), der heuer sogar den Preis zu Fall brachte . . . Besagter Herr war der Norweger Knut

Hamsun. Recht trunken, vergriff er sich auch an einem männlichen Mitglied der Schwedisch­en Akademie, ihn zog er am Backenbart. Für sein zivilisati­onskritisc­hes, Rückzug und ländliche Arbeit verherrlic­hendes Werk „Segen der Erde“hatte er den Preis bekommen, mit dem Geld kaufte sich der erklärte Feind seelenlose­r moderner Technik einen siebensitz­igen Cadillac. Was die Jury ebenfalls nicht voraussah: Hamsun wurde später zum Hitler-Fan, verherrlic­hte ihn im Mai 1945 in einem Nachruf als „Krieger für die Menschheit“und „Verkünder des Evangelium­s vom Recht aller Nationen“.

Der Politiker

1953. Wortmächti­g war er in jedem Fall: Man erinnere sich an die „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede, die Winston Churchill

1940 vor dem britischen Unterhaus hielt. Aber musste es gleich der Nobelpreis sein? Marion Gräfin Dönhoff sprach damals aus, was manche dachten: „Man wird den Verdacht nicht los, dass überall dort, wo Politik im Spiel ist, es irgendwie mit unrechten Dingen zugeht.“Um dann an die „großartige vierbändig­e Biografie des Herzogs von Marlboroug­h“zu erinnern und Churchill klassisch vollendete Prosa zu attestiere­n. Neben politische­n und historisch­en Büchern schrieb Churchill ein belletrist­isches Werk, einen Abenteuerr­oman. „Ich hoffe sehr, dass Sie recht daran getan haben“, meinte er in seiner Dankesrede.

Die Spendable

1966. Statt eines coolen Cadillacs, wie Knut Hamsun, leistete sich

Nelly Sachs mit dem Preisgeld nichts, man könnte aber auch sagen, sehr Großes: nämlich eine in der Geschichte des Preises seltene Großzügigk­eit. Die eine Hälfte spendete die 74-Jährige für karitative Zwecke, die andere an Gudrun Harlan. Diese hatte 1940 ihrer in Berlin lebenden jüdischen Freundin ein Visum besorgt. Damit konnte Nelly Sachs, bereits zur Deportatio­n bestimmt, im letzten Moment nach Schweden fliehen. Auch Selma Lagerlöf (siehe oben) hatte sich für sie eingesetzt, erlebte Sachs’ Ankunft aber nicht mehr, sie starb wenige Monate davor.

Der Gaukler

1997. „Ich bin bestürzt.“So reagierte

Dario Fo, gerade auf dem Weg von Rom nach Mailand, auf die Mitteilung, man habe ihm den Literaturn­obelpreis zuerkannt. Das passte. Er war unterwegs, schließlic­h war er ein reisender Geselle, ein Komödiant ältester Schule. Und er war bestürzt, schließlic­h würdigte ihn ein Establishm­ent, das er ein Leben lang bekämpft hatte. Allerdings immer auch mit einem Augenzwink­ern: Als „mittelalte­rlichen Gaukler“, der „die Macht geißelt und die Würde der Schwachen und Gedemütigt­en wieder aufrichtet“, bezeichnet­e ihn die Jury. Seine Texte? Sind heute fast vergessen. Vielleicht, weil sie auch von seiner Qualität als Darsteller gelebt haben? Aber das ist es nun einmal: das Schicksal des Gauklers.

Der Wankelmüti­ge

1964. Als die Entscheidu­ng für Jean-Paul

Sartre verkündet wurde, war dieser nicht auffindbar; Journalist­en fanden ihn schließlic­h in einem Lokal. Man lasse ihn das Mittagesse­n mit Simone (de Beauvoir) beenden, bat Sartre, er werde sich dann schriftlic­h erklären. Das tat er dann auch: Er nehme den Preis nicht an, um seiner inneren Freiheit willen. Dabei hatte Sartre damals Geldproble­me. Diese beeindruck­ende Haltung ist heute freilich etwas relativier­t: Ein Jurymitgli­ed plauderte aus, Sartre habe 1975 diskret über einen Mittelsman­n nachgefrag­t, ob er das Preisgeld nachträgli­ch doch noch bekommen könne . . .

Die Unterschät­zte

2013. „Wer soll das sein?“Die Kommentare fielen zum Teil spöttisch aus. So spöttisch, dass ein Autor auf Twitter verärgert anmerkte: „Du kennst Alice Munro nicht? Hast nie etwas von ihr gelesen? Interessan­t: Erzähl uns mehr davon.“Schriftste­ller wussten die Kanadierin immer schon zu schätzen: John Updike verglich sie mit Tschechow, Jonathan Franzen schwärmt von ihr. Aber nun ja: Sie schreibt eben Kurzgeschi­chten – und diese sind bekanntlic­h ähnlich breitenwir­ksam wie Gedichtbän­de. Schade. Munro spinnt ihre Erzählunge­n jedenfalls so raffiniert, dass man sich in ihnen verheddert. Und im Gegensatz zu ihrer Landsmänni­n Atwood passiert bei ihr oft wenig Spektakulä­res. Aber doch so viel! Eine Liebe endet. Eine andere beginnt nicht. Ein Vater stirbt. Eine Begegnung verläuft anders als geplant. Das macht süchtig.

Der Vielgelieb­te

1982. In fast jedem Bücherschr­ank wird man wohl das eine oder andere Werk des einen oder anderen Nobelpreis­trägers finden. Aber nur bei Gabriel Garc´ıa Marquez´ kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass dieses Buch auch gelesen wurde. „Hundert Jahre Einsamkeit“über den Niedergang eines Dorfes, „Chronik eines angekündig­ten Todes“– und natürlich das 1985 erschienen­e „Die Liebe in Zeiten der Cholera“: Der Kolumbiane­r ist uns ans Herz gewachsen mit seinen üppigen Erzählunge­n, der feinen Figurenzei­chnung und der überborden­den Fantasie. So farbenpräc­htig und fremd – und gleichzeit­ig so nah. Marquez´ steckte das Preisgeld übrigens in die Gründung einer Tageszeitu­ng. Auch das macht ihn uns sympathisc­h.

Die Vielgeschm­ähte

2004. Das Buch zur | MeToo-Debatte ist drei Jahrzehnte alt und stammt von Elfriede Jelinek:

„Lust“, ein Roman, der nach den Regeln eines Pornos in endlosen Varianten und immer neuen Bildern den Geschlecht­sverkehr schildert – mit kalter Wut und unfassbar erfindungs­reich. Es war nicht der erste Roman, mit dem Jelinek polarisier­te, nicht der letzte. „Pornografi­n“, „Nestbeschm­utzerin“, „Staatsküns­tlerin“– katholisch­e Kreise und die FPÖ attackiert­en die Autorin oft frontal. „Lieben Sie Scholten, Jelinek, Häupl, Peymann, Pasterk? Oder Kunst und Kultur?“, fragte die FPÖ. Als Jelinek den Nobelpreis erhielt – und mit ihr eine jahrhunder­tealte österreich­ische Tradition des Sprachspie­ls und der Sprachkrit­ik –, reagierte die FPÖ verschnupf­t („zieht Österreich seit Jahren in den Dreck“). Die Katholisch­e Aktion schrieb („mit christlich­en Ambitionen vergleichb­ar“) eine liebevolle und kundige Würdigung.

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 ?? [ Getty] ?? Elfriede Jelinek erhielt den Nobelpreis 2004. Die scheue Autorin nahm ihn nicht selbst entgegen.
[ Getty] Elfriede Jelinek erhielt den Nobelpreis 2004. Die scheue Autorin nahm ihn nicht selbst entgegen.
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