Mit nationaler Grandezza in den Untergang
Ungarn ist schon über den Punkt hinaus, von dem man ohne größere finanzielle, moralische und gesellschaftliche Opfer zurück auf den richtigen Weg findet. Kann nur noch eine Katastrophe die Bevölkerung wachrütteln?
Im 21. Jahrhundert benötigt man eine weltoffene, solidarische und verständnisvolle Gesellschaft. Baut eine Regierung hingegen keine solche Gesellschaft auf, sondern predigt viel lieber „Stolz und nationale Selbstachtung“, ist das Land dem Untergang geweiht. Mir ist keine ungarische Regierung bekannt, nicht einmal aus der ersten Hälfte der 1950erJahre, in der die Pöbelhaftigkeit und Unmoral derart dominiert hätten. Mit beinahe mittelalterlich anmutendem Provinzialismus und Kleinkariertheit setzt man sich für kurzfristige Vorteile ein.
Die Entscheidungsträger haben keine Ahnung von dem, was in der Welt vorgeht. Ihre ausgesprochen provinzielle Einstellung versuchen sie durch protziges Herrschaftsgehabe und durch Verspottung Andersdenkender zu kompensieren. Demgegenüber schafft die Globalisierung des 21. Jahrhunderts derart bedeutende und rasante Veränderungen, dass das dafür fehlende Verständnis ein Volk und dessen Führung in größte Schwierigkeiten bringen kann.
Die Verantwortung heutiger Regierungen ist riesig: Wie können sie ihre Bürger fit für die Zukunft machen? Baut man auf Hass und Einschüchterung, wie es in Ungarn geschieht, artet das früher oder später nicht nur in einen geistigen, sondern unter Umständen sogar in einen physischen Genozid aus. Wer kann, verlässt Ungarn. Wer bleibt, wird sich in der Welt bald nicht mehr zurechtfinden.
Der Populist denkt nie nachhaltig – er baut auf Ängste und Emotionen. Die Vernunft hat in seinen Berechnungen keinen Platz. Der Populismus kann sich auch leicht gegen den wenden, der ihn ausübt. Hass hat immer einen bestimmten Adressaten, der sich allerdings jederzeit ändern kann. Sitzt der Hass tief genug, dann wird die vergiftete Gesellschaft automatisch nach dem nächsten Objekt Ausschau halten.
Ist es nicht George Soros, dann ist es die EU oder die UNO oder es sind die Migranten. Findet sich niemand mehr, können Nachbarn an die Reihe kommen. Eine Gesellschaft auf Angst zu gründen, bedeutet, dass ihre gesamte kreative Energie, mit der sie sich für die Zukunft fit machen und ihre eigenen Chancen ausbauen könnte, verloren geht. Die Angst lähmt, und jeglicher Erfolg bleibt aus. Wir sind in Ungarn schon über den Punkt hinaus, von dem man ohne größere finanzielle, moralische und gesellschaftliche Opfer zurück auf den richtigen Weg finden könnte.
Man müsste darüber reden, wie man die bisher verursachten materiellen und intellektuellen Schäden verringern und gleichzeitig eine positive Zukunftsperspektive aufzeigen könnte. Diese sollte nicht auf Hass und Ausgrenzung, sondern auf Offenheit und Solidarität basieren, chancenorientiert sein und sich auf gesellschaftlichen Konsens stützen.
In letzter Zeit sind die Ungarn aber dermaßen teilnahmslos oder von Hass und Ausgrenzung infiziert geworden, dass es schier unmöglich scheint, sie auf diesen Weg zurückzubringen. Trotzdem muss man alles unternehmen, selbst wenn einem der Gegenwind ins Gesicht bläst.
Die Verantwortung betrifft die gesamte Bevölkerung. Aber was geschieht stattdessen? Sowohl die Jugend als auch die mittleren Jahrgänge verlassen das Land in Scharen. Die Tatsache, dass gegenwärtig mehr als eine halbe Million Ungarn im Ausland lebt und arbeitet, kann nicht ausschließlich mit Gehaltsunterschieden erklärt werden.
Sie haben Ungarn vor allem darum verlassen, weil sie in ihrer Heimat keine Perspektive sehen, weil sie die permanente Kampfbereitschaft genauso verabscheuen wie die alles durchdringende Korruption. Auch, weil der ehrliche Kleinunternehmer ausgebootet wird, weil die Zukunft seiner Kinder unsicher ist.
Das Wirtschaftswachstum Ungarns ist ein Potemkinsches Dorf. Ein Teil des Wachstums beruht auf Export, der sowohl auf die günstige Weltkonjunktur als auch auf die Stärke der deutschen Autofirmen zurückzuführen ist. Gerät eines von beiden ins Wanken, hat Ungarn das Nachsehen.
Bald werden auch die Mittel aus den Strukturfonds der EU zurückgehen bzw. werden die zum Konsum benötigten Reallöhne nicht mehr wachsen. Die Wettbewerbsfähigkeit des Landes hat sich nicht gebessert. Durch das Über- gewicht der deutschen Autofirmen ist die ungarische Wirtschaft sogar noch verwundbarer geworden.
Dazu kommt, dass die im Ausland arbeitenden Ungarn ihre Verwandten jährlich mit drei bis vier Milliarden Euro unterstützen. Wenn wir nur die Wirtschaftsleistung von 2017 wiederholen, würden die Gelder aus Brüssel und die Auslandsüberweisungen das Bruttoinlandsprodukt jährlich um sechs Prozent erhöhen. Offiziell wird das Wachstum in diesem Jahr (* 1943) war von 1991 bis 2010 der Generaldirektor des Instituts für Weltwirtschaft an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Mehrere Gastprofessuren, u. a. in Lima/Peru, Brügge, Warschau, an der New Yorker Columbia University und in Bonn. Von 1996 bis 1998 Leiter der Strategischen Einsatzgruppe für Integration in die EU. Zahlreiche Publikationen. auf vier Prozent geschätzt. Man könnte fragen: Wo sind die fehlenden zwei Prozent geblieben? Die Antwort ist einfach: Sie wurden beiseitegeschafft. Das Verprassen der EU-Subventionen zeugt von historisch einmaliger Verantwortungslosigkeit. Zwar hat Ungarns Bauindustrie von den Prestigebauten profitiert, aber eine nachhaltige Entwicklung in dieser Branche ist nicht zu erwarten. Bereits jetzt ist abzusehen, dass wir das Land der verwahrlosten Bauten werden.
Ungarns Oligarchen finanzieren sich gegenseitig kreuz und quer, obwohl ihnen bewusst sein dürfte, dass Vermögen an sich noch keine Wettbewerbsfähigkeit schafft. In einem Umfeld stabiler, nachhaltig verlässlicher und planbarer Wirtschaft gibt es Impulse, die Konkurrenzfähigkeit schaffen und verstärken. Dazu sind die ungarischen Oligarchen ungeeignet. Kaum einer könnte sich im internationalen Wettbewerb behaupten. Sie zu schützen, bedarf es ständiger Verstaatlichung.
Natürlich würde die ungarische Wirtschaft nicht über Nacht pleitegehen, da die in ausländischen Devisen aufgenommenen Kredite in Forint umgewechselt wurden. Damit nahm die finanzielle Verletzbarkeit des Landes bedeutend ab. Würde der Kurs der Landeswährung weiter fallen oder würde sie spekulativ attackiert, hätte das im Nu einschneidende Folgen.
Davon würde aber die Bevölkerung nichts merken. Sie will es nämlich nicht wahrhaben, dass das System zynisch und skrupellos polarisiert und dabei sowohl materiell als auch spirituell eine moderne Leibeigenschaft ins Leben ruft. Das bedeutet Abhängigkeiten wie im Feudalismus. Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass die Menschen nur noch durch eine Katastrophe samt darauffolgendem Neubeginn wachgerüttelt werden könnten. Die Entwicklung wird zeigen, ob für eine Erneuerung dann überhaupt genug Zeit vorhanden gewesen sein wird.
Der Großteil der Ungarn lebt in einer Scheinwelt. Als hätte auf unsere „außergewöhnliche Nation“all das, was unsere nahe und ferne Umgebung seit Langem ausmacht, gar keinen Einfluss.