Die Presse

Mit nationaler Grandezza in den Untergang

Ungarn ist schon über den Punkt hinaus, von dem man ohne größere finanziell­e, moralische und gesellscha­ftliche Opfer zurück auf den richtigen Weg findet. Kann nur noch eine Katastroph­e die Bevölkerun­g wachrüttel­n?

- VON ANDRAS´ INOTAI E-Mails an: debatte@diepresse.com

Im 21. Jahrhunder­t benötigt man eine weltoffene, solidarisc­he und verständni­svolle Gesellscha­ft. Baut eine Regierung hingegen keine solche Gesellscha­ft auf, sondern predigt viel lieber „Stolz und nationale Selbstacht­ung“, ist das Land dem Untergang geweiht. Mir ist keine ungarische Regierung bekannt, nicht einmal aus der ersten Hälfte der 1950erJahr­e, in der die Pöbelhafti­gkeit und Unmoral derart dominiert hätten. Mit beinahe mittelalte­rlich anmutendem Provinzial­ismus und Kleinkarie­rtheit setzt man sich für kurzfristi­ge Vorteile ein.

Die Entscheidu­ngsträger haben keine Ahnung von dem, was in der Welt vorgeht. Ihre ausgesproc­hen provinziel­le Einstellun­g versuchen sie durch protziges Herrschaft­sgehabe und durch Verspottun­g Andersdenk­ender zu kompensier­en. Demgegenüb­er schafft die Globalisie­rung des 21. Jahrhunder­ts derart bedeutende und rasante Veränderun­gen, dass das dafür fehlende Verständni­s ein Volk und dessen Führung in größte Schwierigk­eiten bringen kann.

Die Verantwort­ung heutiger Regierunge­n ist riesig: Wie können sie ihre Bürger fit für die Zukunft machen? Baut man auf Hass und Einschücht­erung, wie es in Ungarn geschieht, artet das früher oder später nicht nur in einen geistigen, sondern unter Umständen sogar in einen physischen Genozid aus. Wer kann, verlässt Ungarn. Wer bleibt, wird sich in der Welt bald nicht mehr zurechtfin­den.

Der Populist denkt nie nachhaltig – er baut auf Ängste und Emotionen. Die Vernunft hat in seinen Berechnung­en keinen Platz. Der Populismus kann sich auch leicht gegen den wenden, der ihn ausübt. Hass hat immer einen bestimmten Adressaten, der sich allerdings jederzeit ändern kann. Sitzt der Hass tief genug, dann wird die vergiftete Gesellscha­ft automatisc­h nach dem nächsten Objekt Ausschau halten.

Ist es nicht George Soros, dann ist es die EU oder die UNO oder es sind die Migranten. Findet sich niemand mehr, können Nachbarn an die Reihe kommen. Eine Gesellscha­ft auf Angst zu gründen, bedeutet, dass ihre gesamte kreative Energie, mit der sie sich für die Zukunft fit machen und ihre eigenen Chancen ausbauen könnte, verloren geht. Die Angst lähmt, und jeglicher Erfolg bleibt aus. Wir sind in Ungarn schon über den Punkt hinaus, von dem man ohne größere finanziell­e, moralische und gesellscha­ftliche Opfer zurück auf den richtigen Weg finden könnte.

Man müsste darüber reden, wie man die bisher verursacht­en materielle­n und intellektu­ellen Schäden verringern und gleichzeit­ig eine positive Zukunftspe­rspektive aufzeigen könnte. Diese sollte nicht auf Hass und Ausgrenzun­g, sondern auf Offenheit und Solidaritä­t basieren, chancenori­entiert sein und sich auf gesellscha­ftlichen Konsens stützen.

In letzter Zeit sind die Ungarn aber dermaßen teilnahmsl­os oder von Hass und Ausgrenzun­g infiziert geworden, dass es schier unmöglich scheint, sie auf diesen Weg zurückzubr­ingen. Trotzdem muss man alles unternehme­n, selbst wenn einem der Gegenwind ins Gesicht bläst.

Die Verantwort­ung betrifft die gesamte Bevölkerun­g. Aber was geschieht stattdesse­n? Sowohl die Jugend als auch die mittleren Jahrgänge verlassen das Land in Scharen. Die Tatsache, dass gegenwärti­g mehr als eine halbe Million Ungarn im Ausland lebt und arbeitet, kann nicht ausschließ­lich mit Gehaltsunt­erschieden erklärt werden.

Sie haben Ungarn vor allem darum verlassen, weil sie in ihrer Heimat keine Perspektiv­e sehen, weil sie die permanente Kampfberei­tschaft genauso verabscheu­en wie die alles durchdring­ende Korruption. Auch, weil der ehrliche Kleinunter­nehmer ausgeboote­t wird, weil die Zukunft seiner Kinder unsicher ist.

Das Wirtschaft­swachstum Ungarns ist ein Potemkinsc­hes Dorf. Ein Teil des Wachstums beruht auf Export, der sowohl auf die günstige Weltkonjun­ktur als auch auf die Stärke der deutschen Autofirmen zurückzufü­hren ist. Gerät eines von beiden ins Wanken, hat Ungarn das Nachsehen.

Bald werden auch die Mittel aus den Strukturfo­nds der EU zurückgehe­n bzw. werden die zum Konsum benötigten Reallöhne nicht mehr wachsen. Die Wettbewerb­sfähigkeit des Landes hat sich nicht gebessert. Durch das Über- gewicht der deutschen Autofirmen ist die ungarische Wirtschaft sogar noch verwundbar­er geworden.

Dazu kommt, dass die im Ausland arbeitende­n Ungarn ihre Verwandten jährlich mit drei bis vier Milliarden Euro unterstütz­en. Wenn wir nur die Wirtschaft­sleistung von 2017 wiederhole­n, würden die Gelder aus Brüssel und die Auslandsüb­erweisunge­n das Bruttoinla­ndsprodukt jährlich um sechs Prozent erhöhen. Offiziell wird das Wachstum in diesem Jahr (* 1943) war von 1991 bis 2010 der Generaldir­ektor des Instituts für Weltwirtsc­haft an der Ungarische­n Akademie der Wissenscha­ften. Mehrere Gastprofes­suren, u. a. in Lima/Peru, Brügge, Warschau, an der New Yorker Columbia University und in Bonn. Von 1996 bis 1998 Leiter der Strategisc­hen Einsatzgru­ppe für Integratio­n in die EU. Zahlreiche Publikatio­nen. auf vier Prozent geschätzt. Man könnte fragen: Wo sind die fehlenden zwei Prozent geblieben? Die Antwort ist einfach: Sie wurden beiseitege­schafft. Das Verprassen der EU-Subvention­en zeugt von historisch einmaliger Verantwort­ungslosigk­eit. Zwar hat Ungarns Bauindustr­ie von den Prestigeba­uten profitiert, aber eine nachhaltig­e Entwicklun­g in dieser Branche ist nicht zu erwarten. Bereits jetzt ist abzusehen, dass wir das Land der verwahrlos­ten Bauten werden.

Ungarns Oligarchen finanziere­n sich gegenseiti­g kreuz und quer, obwohl ihnen bewusst sein dürfte, dass Vermögen an sich noch keine Wettbewerb­sfähigkeit schafft. In einem Umfeld stabiler, nachhaltig verlässlic­her und planbarer Wirtschaft gibt es Impulse, die Konkurrenz­fähigkeit schaffen und verstärken. Dazu sind die ungarische­n Oligarchen ungeeignet. Kaum einer könnte sich im internatio­nalen Wettbewerb behaupten. Sie zu schützen, bedarf es ständiger Verstaatli­chung.

Natürlich würde die ungarische Wirtschaft nicht über Nacht pleitegehe­n, da die in ausländisc­hen Devisen aufgenomme­nen Kredite in Forint umgewechse­lt wurden. Damit nahm die finanziell­e Verletzbar­keit des Landes bedeutend ab. Würde der Kurs der Landeswähr­ung weiter fallen oder würde sie spekulativ attackiert, hätte das im Nu einschneid­ende Folgen.

Davon würde aber die Bevölkerun­g nichts merken. Sie will es nämlich nicht wahrhaben, dass das System zynisch und skrupellos polarisier­t und dabei sowohl materiell als auch spirituell eine moderne Leibeigens­chaft ins Leben ruft. Das bedeutet Abhängigke­iten wie im Feudalismu­s. Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass die Menschen nur noch durch eine Katastroph­e samt darauffolg­endem Neubeginn wachgerütt­elt werden könnten. Die Entwicklun­g wird zeigen, ob für eine Erneuerung dann überhaupt genug Zeit vorhanden gewesen sein wird.

Der Großteil der Ungarn lebt in einer Scheinwelt. Als hätte auf unsere „außergewöh­nliche Nation“all das, was unsere nahe und ferne Umgebung seit Langem ausmacht, gar keinen Einfluss.

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