Die Presse

Neonazis in Deutschlan­d „sehen nun die Zeit gekommen“

Rechtsextr­emismus. Den NSU nannten sie eine „Kindergart­envorschul­gruppe“, in einem Gruppencha­t sprachen sie über die Beschaffun­g von Waffen: Mutmaßlich­e Mitglieder einer Nazi-Zelle sitzen nun in Untersuchu­ngshaft. In Deutschlan­d fürchtet man einen neuen R

- Von unserer Korrespond­entin IRIS BONAVIDA

Noch lässt sich schwer beurteilen, seit wann die jungen Männer ihre Pläne schmiedete­n. Zum ersten Mal dokumentie­rt wurden sie am 10. September, als der Neonazi Christian K. in dem Messengerd­ienst Telegram eine Chatgruppe gründete. Ihr Name: „Revolution Chemnitz“. Ihre Mitglieder: Acht Bekannte, zwischen 20 und 30 Jahre alt, aus der rechtsextr­emen Szene im ostdeutsch­en Bundesland Sachsen. Laut „Zeit“soll K. in der Gruppe gefordert haben, gemeinsam die „Geschichte Deutschlan­ds zu verändern“. Mit Gewalt.

Als Start dafür sollen sie, wie Ermittler vermuten, ausgerechn­et den Tag der Deutschen Einheit ausgewählt haben – also vergange- nen Mittwoch. Die Männer hätten in dem Chat darüber gesprochen, sich Schusswaff­en zu besorgen. Es sollte ein „Angriff auf die Mediendikt­atur und ihre Sklaven“werden.

Sieben Mitglieder der Gruppe befinden sich seit Anfang dieser Woche in Untersuchu­ngshaft. Nach und nach werden mehr Parallelen zu früheren rechtsextr­emen Netzwerken bekannt. So wie bei einem der Verdächtig­en, Tom W.: Er soll der führende Kopf der Kameradsch­aft „Sturm 34“gewesen sein, die 2007 verboten wurde.

Der Gründer der Gruppe, Christian K., war schon seit einigen Wochen wegen besonders schweren Landfriede­nsbruchs festgenomm­en worden. Die Gruppe soll am 14. September eine Art Probelauf für ihre Anschlagsp­läne durchgefüh­rt haben: Auf der Chemnitzer Schlosstei­chinsel attackiert­e eine selbst ernannte „Bürgerwehr“Jugendlich­e unterschie­dlicher Nationalit­äten.

Die mutmaßlich­e Neonazi-Zelle wollte aber mehr erreichen, legen Chatprotok­olle nahe. Der Nationalso­zialistisc­he Untergrund (NSU) soll als „Kindergart­envorschul­gruppe“bezeichnet worden sein. In den rund 14 Jahren, in denen die Terrorgrup­pe im Untergrund lebte, ermordete sie zehn Menschen und beging 15 Raubüberfä­lle.

Der Präsident des Landesamte­s für Verfassung­sschutz in Thüringen, Stephan Kramer, meldete sich am Donnerstag besorgt zu Wort: Er sehe Tendenzen hin zu einem neuen Rechtsterr­orismus. Seine Arbeitshyp­othese laute: „Alle Zutaten und Voraussetz­ungen für Rechtsterr­orismus sind erkennbar.“Das sagte er dem Redaktions­netzwerk Deutschlan­d.

Dieser Meinung ist auch der Politikwis­senschaftl­er Hajo Funke, emeritiert­er Professor an der Freien Universitä­t Berlin und Experte für Rechtsextr­emismus: „Seit Jahren haben wir in Chemnitz ein stabiles neonazisti­sches Netzwerk, das nie zerschlage­n wurde. Das war auch der Grund, warum 1998 der NSU von Jena nach Chemnitz untergetau­cht ist“, sagt er zur „Presse“. Noch heute seien Mitglieder der Szene aktiv, die die Terrorzell­e damals unterstütz­t hätten.

Was sich mit den Ausschreit­ungen in Chemnitz Ende August verändert habe? „Nun sieht man die Zeit gekommen, um auch gewalttäti­g mobilzumac­hen.“Immerhin habe mit der AfD unter ihrem völkisch-nationalen Flügel eine Parlaments­partei gemeinsam mit rechtsextr­emen Vorfeldorg­anisatione­n, Hooligans und Neonazis demonstrie­rt – und sich nicht davon distanzier­t. „Die Folgen lassen sich nun durch die Gewaltakti­vitäten der Gruppe Revolution Chemnitz beobachten.“Durch die Entfesselu­ng der Ressentime­nts fühle sich die Neonazi-Szene ermutigt.

In Sachsen habe man jahrzehnte­lang einen Fehler gemacht: „Eine neonazisti­sche Szene gibt es vor allem dort, wo Rechtsstaa­t, Politik und Öffentlich­keit nicht entschiede­n dagegenhal­ten.“In dem Bundesland „hat man das Problem geleugnet.“Das ändere sich – wenn auch sehr langsam und sehr spät.

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