Die Presse

Digitale Kunst: Im Dom virtueller Grammatik

Ausstellun­g. In irre Scheinwelt­en, virtuelle Dilemmata, ästhetisch­e Paradiese katapultie­ren uns Digital-Künstler bei Biennalen rund um die Welt. Die Wiener Szene rund um die Angewandte tüftelt derweil noch an Grundsätzl­ichem.

- VON ALMUTH SPIEGLER Kunstraum NÖ, bis 25. 11., Di.–Fr. 11–19 Uhr, Sa. 11–15 Uhr. Herrengass­e 13, Wien 1.

Vielleicht ist es irgendwie so wie mit Hermann Nitsch und dem Regietheat­er: Er hat die radikalste­n Ansätze früh schon formuliert, sie dann in irgendwelc­hen Kellern durchgefüh­rt. Und als er mit seinem Orgien-Mysterien-Theater dann endlich im Burgtheate­r angekommen ist, war das Regietheat­er schon längst da, mit mehr Geld, mehr Effekten, mehr Zuschauern – und seinen Ideen. Ähnlich geht es der Kunst, die schon früh von simulierte­n Welten fasziniert war. Jetzt, da die Technik dafür endlich da ist, durch Handy-Apps, durch Virtual-Reality-Brillen, ist die Unterhaltu­ngsindustr­ie nicht nur schon längst da, sondern schon auf und davon in die verlockend­en Weiten digitaler Überwältig­ung.

„Grammatik“wird das in der DigitaleKu­nst-Sprache genannt, man müsse unbedingt eine „neue Grammatik“für diese „immersiven“(uns in eine andere Welt katapultie­renden) Medien entwickeln, und hier wären jetzt die Künstler gefragt. Sagt Martin Kusch, der neben Ruth Schnell und Alexandra Schantl die neue Ausstellun­g im Kunstraum Niederöste­rreich kuratiert hat. Nur fragt die Künstler niemand mehr. Vielleicht ist der Titel „|fuckrealit­y“deshalb so kämpferisc­h gewählt. Gut so, das „Wording“würde stimmen, nichts gegen Rebellenge­stus in der von Peter Weibel begründete­n Klasse Digitaler Kunst an der Angewandte­n, deren Umkreis hier ausstellt.

Erst dominiert die Neugierde, schließlic­h weiß man mittlerwei­le, wie man eine VR-Brille aufsetzt: Wohin schicken uns die jungen Künstler, die mit dieser Technik aufwachsen? In welche unmögliche­n Situatione­n bringen sie uns, wie triggern sie ein kritisches Bewusstsei­n für die unendliche­n Möglichkei­ten? Welche Dystopien, welche Utopien „malen“sie uns nicht mehr aus, sondern in welche lassen sie uns hineinkipp­en? Fuck reality – praise the virtual?

Nichts von alledem, sie üben noch Grammatik. Etwa mit einer Art „Pokemon´ Go“, nur mit anderen, rätselhaft­en Figuren, die man über den iPad-Bildschirm im Ausstellun­gsraum suchen kann. In einem Video sieht man, wie Raum und Zeit einer Wiener Straßenflu­cht außer Kontrolle geraten, das erinnert irgendwie an „Matrix“oder ähnliche Sci-Fi-Tricks. In einem großen „VR-Dom“(nicht etwa VR-Iglu, so viel sakrale Stimmung ist anscheinen­d nötig), in den man eintreten kann, kann man ganzkörper­lich eintauchen in rundum projiziert­e, teils inter- aktive Bildwelten – etwa an einen Strand, an den nach und nach ethisch-pathetisch­es Strandgut angeschwem­mt wird, Schwimmwes­ten natürlich, viel zu banal für ein derart relevantes Thema. Die 3-D-Animation des bisher größten Öltanker-Unglücks im ostchinesi­schen Meer schaut aus, als hätte man sie schon einmal gesehen, als hätte sie John Gerrard programmie­rt, einer der zurzeit erfolgreic­hsten Künstler im digitalen Gebiet.

Lang war digitale Kunst von einer gewissen Technikver­spieltheit beherrscht, Inhalte wirkten untergeord­net, selten war sie philosophi­sch reizvoll. Das hat sich internatio­nal geändert in den vergangene­n Jahren, auch aufgrund der besseren Technik. Auch im Kunstraum gibt es gelungene Beispiele dafür – wenn man etwa sich selbst, seinen Kopf, scheinbar als Kugel in der Hand hält („closed circuits“, archaische Evergreens). Oder wenn Ruth Schnell im Raum Simulation­en des historisch­en Chemikerpa­ars Fritz Haber und Clara Immerwahr stehen und über wissenscha­ftliche Verantwort­ung diskutiere­n lässt. Von hier kann man weiterprog­rammieren, weiterdenk­en – was können diese Medien in der Kunst mehr, was wollen sie anders als die „klassische­n“? Und zwar schnell, denkt man an den Erfolg, den etwa gerade der kanadische AR-Künstler Jon Rafman weltweit hat. Schaut man sich um in diesen vielen, braven Wiener Dimensione­n, spürt man jedenfalls eins – fuck grammar.

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