Digitale Kunst: Im Dom virtueller Grammatik
Ausstellung. In irre Scheinwelten, virtuelle Dilemmata, ästhetische Paradiese katapultieren uns Digital-Künstler bei Biennalen rund um die Welt. Die Wiener Szene rund um die Angewandte tüftelt derweil noch an Grundsätzlichem.
Vielleicht ist es irgendwie so wie mit Hermann Nitsch und dem Regietheater: Er hat die radikalsten Ansätze früh schon formuliert, sie dann in irgendwelchen Kellern durchgeführt. Und als er mit seinem Orgien-Mysterien-Theater dann endlich im Burgtheater angekommen ist, war das Regietheater schon längst da, mit mehr Geld, mehr Effekten, mehr Zuschauern – und seinen Ideen. Ähnlich geht es der Kunst, die schon früh von simulierten Welten fasziniert war. Jetzt, da die Technik dafür endlich da ist, durch Handy-Apps, durch Virtual-Reality-Brillen, ist die Unterhaltungsindustrie nicht nur schon längst da, sondern schon auf und davon in die verlockenden Weiten digitaler Überwältigung.
„Grammatik“wird das in der DigitaleKunst-Sprache genannt, man müsse unbedingt eine „neue Grammatik“für diese „immersiven“(uns in eine andere Welt katapultierenden) Medien entwickeln, und hier wären jetzt die Künstler gefragt. Sagt Martin Kusch, der neben Ruth Schnell und Alexandra Schantl die neue Ausstellung im Kunstraum Niederösterreich kuratiert hat. Nur fragt die Künstler niemand mehr. Vielleicht ist der Titel „|fuckreality“deshalb so kämpferisch gewählt. Gut so, das „Wording“würde stimmen, nichts gegen Rebellengestus in der von Peter Weibel begründeten Klasse Digitaler Kunst an der Angewandten, deren Umkreis hier ausstellt.
Erst dominiert die Neugierde, schließlich weiß man mittlerweile, wie man eine VR-Brille aufsetzt: Wohin schicken uns die jungen Künstler, die mit dieser Technik aufwachsen? In welche unmöglichen Situationen bringen sie uns, wie triggern sie ein kritisches Bewusstsein für die unendlichen Möglichkeiten? Welche Dystopien, welche Utopien „malen“sie uns nicht mehr aus, sondern in welche lassen sie uns hineinkippen? Fuck reality – praise the virtual?
Nichts von alledem, sie üben noch Grammatik. Etwa mit einer Art „Pokemon´ Go“, nur mit anderen, rätselhaften Figuren, die man über den iPad-Bildschirm im Ausstellungsraum suchen kann. In einem Video sieht man, wie Raum und Zeit einer Wiener Straßenflucht außer Kontrolle geraten, das erinnert irgendwie an „Matrix“oder ähnliche Sci-Fi-Tricks. In einem großen „VR-Dom“(nicht etwa VR-Iglu, so viel sakrale Stimmung ist anscheinend nötig), in den man eintreten kann, kann man ganzkörperlich eintauchen in rundum projizierte, teils inter- aktive Bildwelten – etwa an einen Strand, an den nach und nach ethisch-pathetisches Strandgut angeschwemmt wird, Schwimmwesten natürlich, viel zu banal für ein derart relevantes Thema. Die 3-D-Animation des bisher größten Öltanker-Unglücks im ostchinesischen Meer schaut aus, als hätte man sie schon einmal gesehen, als hätte sie John Gerrard programmiert, einer der zurzeit erfolgreichsten Künstler im digitalen Gebiet.
Lang war digitale Kunst von einer gewissen Technikverspieltheit beherrscht, Inhalte wirkten untergeordnet, selten war sie philosophisch reizvoll. Das hat sich international geändert in den vergangenen Jahren, auch aufgrund der besseren Technik. Auch im Kunstraum gibt es gelungene Beispiele dafür – wenn man etwa sich selbst, seinen Kopf, scheinbar als Kugel in der Hand hält („closed circuits“, archaische Evergreens). Oder wenn Ruth Schnell im Raum Simulationen des historischen Chemikerpaars Fritz Haber und Clara Immerwahr stehen und über wissenschaftliche Verantwortung diskutieren lässt. Von hier kann man weiterprogrammieren, weiterdenken – was können diese Medien in der Kunst mehr, was wollen sie anders als die „klassischen“? Und zwar schnell, denkt man an den Erfolg, den etwa gerade der kanadische AR-Künstler Jon Rafman weltweit hat. Schaut man sich um in diesen vielen, braven Wiener Dimensionen, spürt man jedenfalls eins – fuck grammar.