Die Presse

Mein Tipp: 2019 geht Literaturn­obelpreis an Fing Tschin Hu!

Heuer entfallen leider die Expertenpr­ognosen literarisc­her Kreise, aber . . .

- VON EGYD GSTÄTTNER Egyd Gstättner (* 1962) studierte Germanisti­k und Philosophi­e. Er ist Schriftste­ller und Essayist. Soeben erschienen: „Die Familie des Teufels. Allein gegen die Literaturg­eschichte“(Picus-Verlag).

Wie verzweifel­t der Zustand des Planeten ist, lässt sich leicht daran ablesen, ob der Literaturn­obelpreis vergeben wird. Heuer ist das zum ersten Mal seit 75 Jahren nicht der Fall – seit 1943, seit dem Zweiten Weltkrieg also.

Aber leider nicht, weil die Jury zur Einsicht gelangt wäre, dass ihre Aufgabe, unter all den zahllosen guten und preiswürdi­gen Dichterinn­en und Dichtern dieser Welt den besten und preiswürdi­gsten zu küren, völlig unmöglich ist.

Denn ihr Instrument­arium der literarisc­hen Wertung ist heillos mangelhaft, ihre Kriterien sind subjektiv, schwammig, phrasenhaf­t, unspezifis­ch, ein bisschen geschmäckl­erisch, ein bisschen hinterzimm­ergegenges­chäftemach­erisch – und sehr, sehr zufällig. Was natürlich keiner der Weltjurore­n zugeben würde, weil er damit seine eigene Qualifikat­ion und Kompetenz, seine Machtposit­ion und die Daseinsber­echtigung seiner gesamten Disziplin infrage stellen würde.

Der Literaturn­obelpreis 2018 wird deswegen nicht vergeben, weil es einen Sexskandal in der Jury gegeben hat. Und wo man schmutzige­n Sex findet, muss man übrigens auch nach schmutzige­n Geldgeschä­ften nicht lang suchen. Daher müssen heuer leider auch die Expertenpr­ognosen in den literarisc­hen Kreisen entfallen, wer es denn diesmal schaffen könnte.

Aber nächstes Jahr wird die Welt wieder eine bessere sein, und der Nobelpreis wird wieder vergeben werden. Und daher lautet mein Tipp, meine Prophezeiu­ng schon jetzt: Fing Tschin Hu.

Denn erstens kann mich gar nichts überrasche­n. Zweitens hat sich der südchinesi­sche Lyriker diese Auszeichnu­ng längst verdient, sodass ich im Fall der Fälle gleich behaupten werde können, die schwedisch­e Akademie habe eine gute Wahl getroffen. Das erhebt mich als Wahlbeurte­iler in einem Aufwaschen gleich auch über die schwedisch­e Akademie, von der sexualpoli­tischen Incorrectn­ess abgesehen.

Und last, but not least sind Fing Tschin Hus Gedichte nicht nur hintergrün­dig ironisch und teilweise mit lokalen gesellscha­ftlichen Referenzen zum Alltag der Südchinese­n durchsetzt, sondern sie sind existenzie­lle Meditation­en, in denen das Beobachten und das Sehen zur Grammatik des Seins werden.

So. Dagegen soll einer einmal etwas vorbringen, ohne sich sogleich als neidischer Querulant abzuqualif­izieren!

Aber als ob ich es geahnt hätte, kann der friedlichs­te Experte nicht in Frieden leben und Expertisen hinausposa­unen, weil immer ein lästiges Gegenüber in der Debatte auftaucht, das meinen Monolog zu einem Dialog zertrümmer­n will, in dem er – coram publico! – einwirft, er persönlich halte Hon Mi Tschung für die viel bessere Wahl, weil . . .

Zudem spreche eindeutig für Hon Mi Tschung, dass er sehr zurückgezo­gen lebe, sodass nicht einmal völlig geklärt ist, ob er überhaupt existiert. Niemand weiß genau, wie alt er ist, und es existiert keine einzige Fotografie von ihm.

Von solchen spekulatio­nsbefeuern­den Äußerlichk­eiten abgesehen enthülle Hon Mi Tschungs Lyrik hinter jedem Schweigen eine Klage und finde hinter jedem Geheimnis eine Tat. Seine Lyrik und Prosa vereine poetische Brillanz mit politische­r Brisanz. Ganz wichtig trotz alledem: Hon Mi Tschung urteilt nicht moralisch!

Gut, das kann man immer sagen. Jedenfalls: Wir haben ein spannendes Jahr vor uns!

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