Die Presse

Europa hat das Ende der Zeitumstel­lung nicht verdient

Wie soll die EU noch funktionie­ren, wenn sie ein so kleines Problem wie die Entscheidu­ng zwischen Sommer- und Winterzeit nicht bewältigt?

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E s haben sich schon Billardver­eine aufgelöst, nur weil sich ihre Mitglieder nicht darauf einigen konnten, ob sie jeden Dienstag um 17 oder 18 Uhr trainieren sollen. Freundscha­ften sind auseinande­rgegangen, weil kein gemeinsame­r Zeitpunkt für das nächste Treffen gefunden wurde. Und die EU? Ist sie wirklich schon so am Ende, dass ihre Regierunge­n nicht einmal mehr einen Kompromiss zur Beendigung der nervenden Zeitumstel­lung zwischen Sommer- und Winterzeit finden?

Diesmal ist der EU-Kommission kein Vorwurf zu machen. Sie hat demokratie­politisch sauber gearbeitet. Sie hat eine öffentlich­e Konsultati­on durchgefüh­rt, an der sich jeder Interessie­rte beteiligen konnte. Sie hat einen Vorschlag entwickelt, der den Mitgliedst­aaten offenlässt, ob sie künftig lieber die Sommer- oder die Winterzeit permanent einführen möchten. „Die Menschen wollen das, wir machen das“, kündigte Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker an. Der einzige Wunsch, den die Brüsseler Verwaltung äußerte, war, dass sich die Staaten Mitteleuro­pas doch bitte absprechen sollten, um möglichst die gleiche Zeit einzuführe­n. Der wirtschaft­liche Schaden im gemeinsame­n Binnenmark­t wäre sonst unnötig groß.

Juncker wollte das Thema bis Frühjahr nächsten Jahres rasch und zügig lösen. Doch jetzt stellt sich heraus, dass die nationalen Interessen­lagen weit unterschie­dlicher sind als angenommen. Die Frage, ob eine permanente Sommer- oder permanente Winterzeit eingeführt werden soll, spaltet die Mitgliedst­aaten. Westeuropa fürchtet lange dunkle Vormittage im Winter, während einige Mitteleuro­päer gern längere helle Abende im Sommer hätten. Finnlands Regierung überlegt bei diesem Thema sogar eine Volksabsti­mmung, um zu verhindern, dass seine Einwohner gegen das frühere oder spätere Aufstehen rebelliere­n. Griechenla­nd und Zypern würden lieber bei der jetzigen Zeitumstel­lung bleiben.

Bei allem Verständni­s für Eltern, die gern ihre Kinder bei Helligkeit in die Schule bringen möchten, oder Restaurant­betreiber, die gern am Abend länger ihre Terrasse offen halten wollen: Es wird Gruppen geben, die von der letztlich entschiede­nen Zeit (der derzeitige­n Sommer- oder Winterzeit) mehr profitiere­n, andere weniger. Eine große Mehrheit von 84 Prozent der Teilnehmer an der EU-weiten Befragung hat sich dafür ausgesproc­hen, dass die halbjährli­che Umstellung fallen soll. Es gibt zwar einen Handlungsb­edarf, aber zu unterschie­dliche Interessen. Womit alles so bleiben könnte wie bisher.

Der Konflikt ist symptomati­sch für die 28 europäisch­en Staaten, die sich in den vergangene­n 60 Jahren zusammenge­schlossen haben, um Probleme gemeinsam zu lösen. Sie haben gelernt, Kompromiss­e zu finden, bei denen einmal das eine, einmal das andere Land nachgeben musste, um die Gemeinscha­ft voranzubri­ngen. Jetzt aber ist es keiner Regierung mehr zu blöd, selbst bei wenig wichtigen Themen gemeinsame Beschlüsse zu boykottier­en. Nationale Interessen haben eine überborden­de Bedeutung erlangt. Das Kuriose daran ist, dass jene, die auf die nationale Karte setzen, der EU vorwerfen, sie funktionie­re nicht mehr. Sie sind selbst das Problem, projiziere­n es aber auf die Europäisch­e Union. U m dieses negative Bild zu differenzi­eren, muss erwähnt werden, dass es Ausnahmen gibt. Die 28 Mitgliedst­aaten haben sich eben erst in mühsamen Verhandlun­gen auf einen Kompromiss für die CO2-Reduktion bei Pkw geeinigt. Dort, wo sie den Schaden für sich selbst erkennen, schaffen sie in Einzelfäll­en noch immer, gemeinsam zu agieren. Aber siehe Migration und Außengrenz­schutz: Nicht einmal das ist eine Garantie für Zusammenha­lt.

Was unterschei­det die EU noch von maroden Billardver­einen, deren Mitglieder sich auf keine Trainingsz­eit mehr einigen können? Nicht mehr viel. Es gibt sogar eine große Gemeinsamk­eit: Wegen des internen Streits um die Zeit ist die Mannschaft irgendwann nicht mehr fähig, das Spiel gegen gewichtige internatio­nale Gegner aufzunehme­n.

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VON WOLFGANG BÖHM

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