Die Presse

Wenn die Milliarden im Gefängnis landen

Türkei. Die Regierung gibt ein Mehrfaches für den Ausbau von Haftanstal­ten als für Bildung und Forschung aus. Die Gefängniss­e quellen über. Eine Generalamn­estie, wie von den Ultranatio­nalisten gefordert, lehnt Präsident Erdo˘gan ab.

- VON DUYGU ÖZKAN

Sieben Jahre, sechs Monate: Ein Gericht in der osttürkisc­hen Provinz Mus¸ verurteilt­e Seda Taskın¸ am Mittwoch zu einer langen Haftstrafe. In Mus¸ hatte sich die kurdische Journalist­in auf Recherche befunden, ehe sie plötzlich festgenomm­en wurde. Das war vor zehn Monaten, aber den Vorwurf gegen sie reichten die Ermittler offenbar erst später nach.

Diese und weitere Verfahrens­fehler haben Taskıns¸ Kollegen aufgedeckt, genützt hat es nichts. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass die junge Frau einer Terrororga­nisation angehöre – ein Vorwurf, den die türkische Justiz spätestens seit dem gescheiter­ten Putsch im Juli 2016 universal einsetzt.

Aufgehört hat die massive Verhaftung­swelle seither nicht – und das kostet den Staat viel Geld. Zwar wusste die Bevölkerun­g, dass die Ausgaben für die Gefängniss­e gestiegen sind, nur hat wohl kaum jemand mit diesen Ausmaßen gerechnet. Denn der neue Fiskalberi­cht sorgt für hitzige Diskussion­en. Demnach investiert­e Ankara in den vergangene­n drei Jahren mehr als drei Milliarden Euro in den Ausbau der Haftanstal­ten; 1,2 Mrd. Euro entfielen allein auf 2017. „Wir geben mehr Geld für Gefängniss­e aus als für Bildung“, schreiben empörte User in sozialen Medien. Tatsächlic­h hat die Regierung im selben Zeitraum – drei Jahre – lediglich 550 Millionen Euro für Forschung und Bildung verbucht.

Erdogan˘ im Wahlkampf-Modus

Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ hatte die Gefängniso­ffensive schon kurze Zeit nach dem Putschvers­uch angekündig­t. In diesem Frühjahr war von 53 neuen Haftanstal­ten die Rede. Teilweise haben die Bauarbeite­n schon begonnen, und regierungs­nahe Medien haben es nicht verabsäumt, die jeweiligen Spatenstic­he feierlich zu verkünden. In der Zwischenze­it hat es die Türkei in die Top Ten der Länder mit den meisten Gefängnisi­nsassen geschafft. Der Londoner Organisati­on World Prison Brief zufolge rangiert das Land derzeit an achter Stelle mit etwa 233.000 Insassen. Zum Vergleich: Im Jahr 2000 waren es knapp 50.000, sechs Jahre später 70.000. Die Liste führen im Übrigen die USA mit 2,1 Millionen Inhaftiert­en an, gefolgt von China, Brasilien, Russland und Indien.

Bis die neuen Gefängniss­e die alten „entlasten“können, denkt in Ankara zumindest die ultranatio­nalistisch­e MHP laut darüber nach, mittels einer Generalamn­estie Platz zu schaffen. Es war eine Idee des Parteichef­s Devlet Bahce-¸ li. Er wolle jedoch Kinderschä­nder, Vergewalti­ger und Frauenmörd­er, PKK-Mitglieder sowie Anhänger des Predigers Fethullah Gülen von dieser Amnestie ausnehmen, legte Bahceli¸ per Twitter nach. „Wer bleibt da noch übrig?“, fragte ein User ironisch. Tatsächlic­h sitzt aber ein nicht unbeträcht­licher Teil der Häftlinge wegen Diebstahls ein. Erdogan˘ hingegen erteilte Bahceli,¸ seinem Juniorpart­ner in der Regierung, sogleich eine scharfe Absage. Dieses Thema eigne sich nicht für politische­s Kleingeld, sagte er vor wenigen Tagen bei einer Parteivers­ammlung in der Kleinstadt Kızılcaham­am.

Erdogan˘ bezog sich auf Amnestien vergangene­r Regierunge­n, die er als falsch bezeichnet­e – und die um die Jahrtausen­dwende tatsächlic­h eine unübersich­tliche Situation hervorgeru­fen haben.

Angesichts der Gefängnisd­ebatte, der innenpolit­ischen Querelen und der mutmaßlich­en Ermordung des saudischen Journalist­en Jamal Khashoggi in Istanbul ging in Kızılcaham­am eine brisante Ansage Erdogans˘ fast unter: „Ich akzeptiere diese Veranstalt­ung als Startschus­s für die nächsten Wahlen im März.“Dann finden in der Türkei die Kommunalwa­hlen statt – und Erdogan˘ ist schon wieder im Wahlkampf.

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