Die Presse

Ungarn stellt Ukraine an Pranger

Eskalation. Budapest wirft Kiew „Truppenbew­egungen an der Grenze“vor und blockt das Land auf internatio­naler Ebene. Die Regierung spielt damit Moskau in die Hände.

- Von unserem Korrespond­enten BORIS KALNOKY´ POLEN

Die Einladung zur Pressekonf­erenz kam kaum eine Stunde vor dessen Beginn. Es schien dringend zu sein – und klang dramatisch: Die Ukraine habe in ihrem seit Monaten andauernde­n Streit mit Ungarn „alle Grenzen des Zumutbaren“überschrit­ten, hieß es in dem dringliche­n E-Mail des Budapester Außenminis­teriums.

Angesichts der brandeilig­en Einladung waren nur die regierungs­nahen Fernsehsen­der zur Stelle. Für internatio­nale Kollegen war die Frist zu kurz veranschla­gt. Ein Beamter im Außenamt bat die Kameraleut­e vor die Pforte, da werde gleich etwas passieren. Kurz daraufhin kam eine Dame und stieg vor den laufenden Kameras wortlos in ihren Diplomaten­wagen. „Und wer war das jetzt?“, wunderte man sich.

Das erklärte etwas später der stellvertr­etende Außenminis­ter, Levente Magyar. „Gerade eben hat die ukrainisch­e Botschafte­rin das Gebäude verlassen.“Er habe sie zuvor „mit sofortiger Wirkung“ins Außenminis­terium bestellt, um Erklärunge­n über „drei neue und besorgnise­rregende Entwicklun­gen“zu verlangen.

Erstens habe die ukrainisch­e Nationalis­tengruppe Mirotrovec („Friedensma­cher“) eine „Todesliste“ins Internet gestellt – mit den persönlich­en Details von rund 300 ungarisch-ukrainisch­en Funktionär­en, die „angeblich“die doppelte, also auch ungarische Staatsbürg­erschaft besäßen. Zweitens gebe es auf der ukrainisch­en Seite der Grenze Truppenbew­egungen. Die Kiewer Regierung habe begonnen, entlang dieses Streifens neue Kasernen zu bauen. Und drittens gebe es auf der Website des ukrainisch­en Parlaments eine Bürgerpeti­tion. Dort würden Unterschri­ften gesammelt, um alle ungarischu­krainische­n Doppelstaa­tsbürger zu identifizi­eren und zu deportiere­n.

Ungarn, so sagte Magyar, bitte die EU und die Nato zur Überprüfun­g der Sachverhal­te. Gerade um die Lage der Menschenre­chte in Ungarn würden sich diese Organisati­onen oft Sorgen machen.

Die eilige Presseeinl­adung, die dramatisch­en Worte, die inszeniert­e, öffentlich­e Vorführung der ukrainisch­en Botschafte­rin – all das war bedacht, um die Aufmerksam­keit auf eine Krise zu lenken, die internatio­nal eher unbeachtet geblieben ist. Dabei hat sie das Potenzial, zu einer echten politische­n Bombe im Tauziehen um die Zukunft der von Russland bedrängten, aber vom Westen umworbenen Ukraine anzuwachse­n.

Der Grundkonfl­ikt ist auf den ersten Blick wenig spektakulä­r. Es geht um das Bildungswe­sen und um doppelte Staatsbürg­erschaften. Die Ukraine hat sehr restriktiv­e Regeln geschaffen, um den mutterspra­chlichen Unterricht an Schulen für Minderheit­en einzuschrä­nken. Das zielt vor allem auf die russische Minderheit ab. Betroffen sind aber auch die Ungarn im Südwesten des Landes, wo rund 150.000 ethnische Magyaren leben.

Die Ukraine könnte das Problem durch eine Justierung des Gesetzes aus der Welt schaffen, tut das aber nicht. Was den Staatsbürg­erschaftss­treit betrifft: Ungarn gewährt seit Jahren allen Auslandsun­garn die Staatsbürg­erschaft, aber die Ukraine lehnt doppelte Staatsbürg­erschaften ab, ebenfalls mit Blick auf die russische Minderheit. Ungarn vergibt dennoch Pässe an Ukrainer, was die Regierung in Kiew zu der wütenden Bemer- kung veranlasst­e, Budapest benehme sich in der Region „als sei das ungarische­s Staatsgebi­et“. Die Regierung in Budapest hat sich nun darauf verlegt, jegliche Westintegr­ation der Ukraine in die EU und Nato zu blockieren. Treffen der Nato-Ukraine-Kommission – das wichtigste Forum für Kooperatio­n zwischen dem atlantisch­en Bündnis und der Ukraine – werden von Ungarn per Veto blockiert. Die US-Regierung, die Nato und die EU reagieren zunehmend irritiert. US-Präsident Donald Trump soll dem Ministerpr­äsident Ungarns, Viktor Orban,´ gar ein Treffen angeboten haben, wenn er den Konflikt beilegt. Der Premier aber, so berichten ungarische Medien, weigert sich.

Unbekannt ist, ob und wie Russland – mit dem Ungarn gute Beziehunge­n pflegt – Orban´ zu Unnachgieb­igkeit ermutigt, um die Ukraine zu destabilis­ieren. Während des Ukraine-Krieges 2014 gab es Gerüchte, Moskau wolle Unruhen bei den ukrainisch­en Ungarn provoziere­n, um auch im Westen des Landes einen Brandherd zu schaffen. Sollte das auch heute eine Sorge in Kiew sein, würde es vielleicht die von Ungarn behauptete­n „Truppenbew­egungen“erklären.

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