„Nur der Mensch selbst will mehr Glück“
Interview. Die Welt wird nicht schlechter, sondern immer besser, demonstriert der US-Psychologe Steven Pinker mit Daten: ein Gespräch über sein neues Buch, schädliche Religion und das Fatale an den düsteren Zukunftsvisionen.
Die Presse: In Ihrem weltweit beachteten Buch „Gewalt“stellten Sie die Menschheitsgeschichte als Bewegung hin zu weniger Gewalt dar. In „Aufklärung jetzt“demonstrieren Sie nun, dass sich das Leben seit der Aufklärung für die Menschen in allen wesentlichen Bereichen verbessert hat. Man könnte das für eine fast banale Erkenntnis halten . . . Steven Pinker: Das ist es nicht, denn viele Menschen sind sich wirklich nicht bewusst, dass Krieg, Hunger, Krankheiten, Armut weniger geworden sind. Sie glauben, dass es umgekehrt ist.
Ihr Buch ist auch eine Verteidigung der Ideale der Aufklärung und des säkularen Humanismus gegen Kulturpessimisten und Apokalyptiker. Glauben Sie nicht, dass auch düstere Zukunftsvisionen – wie etwa in puncto Klimawandel – zur Fortschrittsgeschichte beitragen? Das ist schon möglich, da geht es um angewandte Psychologie. Allerdings ist es nicht ausgemacht, dass es bei Themen wie Atomkrieg oder Klimawandel der beste Weg ist, Menschen große Angst vor den Folgen zu machen. Das stimmt die Menschen oft fatalistisch. Es ist eine offene und extrem wichtige Frage, was die beste Strategie ist, Menschen zu motivieren. Einiges deutet daraufhin hin, dass sie darin besteht, zu zeigen, was getan werden kann, und zu vermitteln, dass mit diesem Tun das Problem bewältigbar ist. Immer mehr Klimaaktivisten fürchten, dass es kontraproduktiv ist, düsterste Szenarien auszumalen.
Auffällig ist, dass das Glücksgefühl nicht direkt proportional zu den verbesserten Lebensbedingungen ansteigt, dass es eine große Kluft gibt zwischen realem und subjektiv empfundenem Fortschritt. Weil die Natur nie Interesse daran hatte, den Menschen glücklich zu machen? Das stimmt, die Evolution hatte sicher nie ein Interesse daran, nur der Mensch selbst will mehr Glück. Das Gefühl von Glück hat aber sehr wohl zugenommen, und es ist stark an Wohlstand geknüpft. Dieser macht Menschen im Schnitt glücklicher, wenn auch nicht überall. Speziell bei den US-Amerikanern war das in den vergangenen Jahrzehnten nicht der Fall, wir rätseln, warum. Es besteht auch eine gewaltige Kluft zwischen dem Glück, das die Leute für sich selbst behaupten, und ihrer Einschätzung, wie glücklich andere sind: Menschen schätzen andere viel unglücklicher ein als sich selbst.
Äußere Verbesserungen scheinen jedenfalls nicht auszureichen, um Menschen zufrieden zu machen. Die dafür nötige innere Bildung streift Ihr Buch gar nicht. Nein, aber ich zeige, dass soziales Vertrauen, soziale Unterstützung neben Wohlstand sehr wichtig sind, Freiheit auch. Es gibt auch kulturelle Unterschiede, die wir nicht ganz verstehen. Zum Beispiel sind Menschen in Lateineuropa glücklicher, als man bei ihrem Einkommen erwarten würde, Menschen in Osteuropa hingegen weniger glücklich als erwartbar.
Haben Sie eine Idee, warum? Nicht wirklich. Möglicherweise ist es die Kultur – Familie, Freunde, Musik, Essen . . . Und das Klima.
Und warum wurden Frauen in den USA unglücklicher, als sie ab den 1960er-Jahren an Freiheit gewannen? Eine Erklärung dafür ist, dass mehr Möglichkeiten und mehr Verantwortung mehr Angst erzeugen. Und wer mehr Ziele im Leben hat, hat auch mehr Quellen für Frust und Stress. Man darf auch nie vergessen, dass Glück nicht das einzige Lebensziel ist. Viele entscheiden sich für weniger Glück, aber mehr Sinn, Erfüllung.
Sie nennen den tiefgläubigen Philosophen Blaise Pascal unter den Vätern der Aufklärung. Für Sie scheint Glaube eine überholte Sache, die so rasch wie möglich aus der Welt geschafft gehört . . . Es stimmt, dass viele Aufklärer an Gott glaubten, wobei etliche Deisten waren oder auch, wie Spinoza, Pantheisten. Ich denke aber, dass es vor Darwin nur logisch war, so zu denken, und dass es vor der Entwicklung der Informations- und Neurowissenschaft nur logisch war, zu glauben, dass Intelligenz eine göttliche Quelle hat. Glücksstudien zeigen immer wieder, dass Religiöse glücklicher sind als Nichtreligiöse – das ficht Sie nicht an? Ich halte es mit George Bernard Shaw: Dass ein gläubiger Mensch glücklicher sein kann als ein nicht gläubiger, hat keine größere Bedeutung, als dass ein Betrunkener glücklicher sein kann als ein Nüchterner. Es ist außerdem nicht ganz richtig, dass religiöse Menschen glücklicher sind als nicht religiöse. Menschen, die zu religiösen Gemeinschaften gehören, sind glücklicher. Auch nicht religiöse Menschen, die zu einer kirchlichen Gemeinschaft gehören, weil ihre Frau und ihre Kinder ihr angehören, sind glücklicher. Umgekehrt sind religiöse Menschen ohne solche Gemeinschaft keineswegs glücklicher.
Selbst wenn Menschen nur ihre Wohnung aufräumen oder sonst Ordnung in ihr Leben zu bringen versuchen, ist viel Irrationales, viel magisches Denken im Spiel. Warum wollen Sie religiöse Vorstellungen eliminieren, wenn sie hilfreich sein können? Das will ich nicht, aber meist bewirkt Religion das Gegenteil. Einige religiöse Vorstellungen können im Leben gut funktionieren, aber da sie auf Aberglauben beruhen, ist es Zufall und eher unwahrscheinlich.
Europa erlebt seit Jahren eine Renaissance des religiösen Anspruchs im öffentlichen Raum, mit einem konservativen Islam, der religiöse Gesetze über säkulare stellt. Für welchen Umgang damit plädieren Sie? Halten Sie es mit dem österreichischen Kaiser Joseph II., der Religion am gesellschaftlichen Nutzen maß? Praktiken, die ihre Rechtfertigung aus einer heiligen Schrift und der Existenz eines übernatürlichen Wesens ableiten, sollten wir immer zurückweisen, weil sie sich nicht auf gute Gründe stützen. Religiöse Überzeugungen müssen immer mit säkularen Kriterien geprüft werden. Wenn kirchliche Institutionen und Gruppen Obdachlose betreuen, eine Klinik in Afrika haben oder sich um Frieden bemühen, dann sollten wir sie unterstützen.
Der Populismus ist im Westen derzeit auf dem Vormarsch, in Migrationsdebatten blüht der Hass. Sie leiten aus Statistiken ab, dass sowohl Populismus als auch rassistisches Denken langfristig immer weniger werden. Heißt das, Sie machen sich wenig Sorgen? Nein, große! Auf lange Sicht, glaube ich, wird der Populismus nicht siegen. Kurzfristig aber kann er trotzdem extremen Schaden anrichten.
Seit Jahren verkünden Sie die Botschaft, dass die Menschheitsgeschichte ein Weg hin zum Positiven ist. Empfinden Sie die öffentliche Rolle des fortschrittsgläubigen Optimisten zuweilen auch als Korsett? Es kommt vor. Ich muss aber betonen, dass ich mich nicht als Optimisten sehe, sondern als Possibilisten. Ich will nicht die Leute dazu bringen, das Glas als halb voll statt halb leer zu sehen. Es geht mir um eine von Daten gespeiste Weltsicht. Der Mediziner Hans Rosling hat dafür den Begriff „factfulness“erfunden. Das ist nicht dasselbe wie Optimismus. Ich glaube überhaupt nicht, dass alles gut läuft. Tatsächlich läuft das meiste gar nicht gut.
Ich glaube überhaupt nicht, dass alles gut läuft. Tatsächlich läuft das meiste gar nicht gut. Steven Pinker