Der heiße Kampf ums kalte Herz
ÖVP. Sebastian Kurz hat die ÖVP aus dem Eck der sozialen Kälte geholt. Dafür machte man auch teure Zugeständnisse.
Wien. Vielleicht ist Sebastian Kurz wirklich so ein höflicher, junger Mann. Vielleicht hat er auch einfach nur die besseren Berater. Wer jedenfalls bei den diesjährigen „Sommergesprächen“des ORF bei einem Heurigen in Niederösterreich genau aufgepasst hat, hat bemerkt, dass sich Kurz als einziger Parteichef bei der Kellnerin bedankt hat.
„Vielen Dank“, sagte der Bundeskanzler, als ihm die Dame zu Beginn des Interviews ein Glas Wasser hinstellte. Alle anderen – vom damaligen SPÖ-Chef Christian Kern bis zur Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger – haben die Kellnerin schlicht ignoriert.
Es war eine kleine Geste, wie damals im Februar 2018, als er einem „Standard“-Redakteur die Teekanne ins Büro trug. Als der Journalist ein Foto davon auf Twitter postete, musste er sich viel Häme anhören. Das gefiel dem linksdominierten sozialen Netzwerk gar nicht: Ein Bundeskanzler, der als sympathisch und höflich rüberkommt. Lieber stellt man ihn als Kanzler mit kaltem Herzen dar.
Das ist auch schon das Geheimnis des Erfolgs von Sebastian Kurz: Es gelang ihm – oder eher seinen Beratern und Strategen –, dass die ÖVP nicht mehr als Partei der sozialen Kälte dasteht, die nur für die Wirtschaft Politik macht und der es egal ist, wenn die Menschen auf der Strecke bleiben. Bis zur Wahl 2017 hat die SPÖ mit dieser Masche alle Wahlkämpfe gewonnen.
Kurz hat sich gegen diese Punzierung erfolgreich gewehrt. Als die SPÖ beispielsweise im Frühjahr 2017 mit der Forderung nach der Abschaffung des Pflegeregresses in den Wahlkampf startete, reagierte die ÖVP zuerst zurückhaltend. Auch deshalb, weil die Abschaffung den Bundesländern zusätzliche Kosten verursacht. Als die SPÖ die Forderung immer stärker spielte, rief Kurz alle Landeshauptleute der ÖVP persönlich an und erklärte ihnen, dass er bei diesem Punkt mitgehen müsse. Kurz darauf fand sich die Abschaffung des Pflegeregresses als einer von zehn Punkten im ÖVP-Programm für das Gesundheits- und Pflegesystem.
Ähnlich bei der vorzeitigen Angleichung des Frauenpensionsalters an jenes der Männer, einer alten Forderung der ÖVP. Kurz trat auf die Bremse, das Antrittsalter solle nicht vor 2024 erhöht werden. Und auch bei der Erhöhung der niedrigeren Pensionen, die sich die SPÖ vor der Wahl auf die Fahnen heften wollte, ging die Volkspartei sofort mit.
Dazu kamen immer wieder Erzählungen vom Vater, der wegen einer Kündigungswelle bei Philips vorübergehend seinen Job verlor hatte. Dass Kurz die Episode auch jetzt wieder in Gesprächen erwähnt, zeigt, wie sehr man sich in der ÖVP Sorgen macht, aufgrund der letzten politischen Maßnahmen wieder als kalt und unsozial dargestellt zu werden. Etwa wegen der Einführung des Zwölf-Stunden-Arbeitstags. Kurz betonte im ORF, dass er durch die Arbeitslosigkeit des Vaters selbst miterlebt habe, „wie schwierig so eine Situation sein kann“. Daher sei es sein großes Ziel, dass „möglichst viele Menschen in Österreich einen Job haben, von dem sie leben können“. Und dafür braucht es eben auch solche Maßnahmen.
Noch auffälliger war der für eine Regierung völlig ungewöhnliche Schritt, sich heuer im Herbst in die Gehaltsverhandlungen der Sozialpartner einzumischen. Man solle bei den Gesprächen sicherstellen, dass „die Arbeitnehmer von der guten wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Land profitieren“, wünschten sich Kurz und Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) in einer gemeinsamen Stellungnahme. Es brauche einen „guten Gehaltsabschluss jedenfalls klar über der Inflation“. Nicht nur Wirtschaftsvertreter waren von der Aussendung irritiert.
Man scheut auch vor 180-Grad-Schwenks nicht zurück, wenn es darum geht, der SPÖ keine Angriffsfläche zu bieten. Etwa bei der Kinderbetreuung. Aus der ursprünglich von der Regierung geplanten Kürzung der Mittel wurde am Ende eine leichte Erhöhung.
Niedrigverdiener haben dank ÖVP und FPÖ seit Juli etwas mehr Geld auf dem Konto, weil die Koalition die Arbeitslosenbeiträge bei geringen Einkommen gesenkt hat. Bei den Pensionserhöhungen gab es eine soziale Staffelung mit einem deutlichen Plus für niedrige Pensionen.
Heute, Samstag, wird Kanzler Kurz wesentliche Teile seiner Rede zum Jahrestag der Nationalratswahl der Entlastung der kleineren und mittleren Einkommen widmen. Und auch bei der Pflege werde er Reformen ankündigen, um „diese Lücke im sozialen Netz rasch zu schließen“, hieß es in einer gestern verbreiteten Zusammenfassung.
Nur bei der Flüchtlings- und Migrationspolitik lässt sich die ÖVP vom strikten Kurs nicht abbringen. Auch nicht von Ex-Parteichef Erhard Busek oder vom Parteigranden Christian Konrad, die beide die christlichsoziale Haltung vermissen. Man müsse wissen, erklärt ein ÖVP-Stratege, wo die Stimmen zu holen seien.
Es bedarf eines guten Gehaltsabschlusses klar über der Inflation. Bundeskanzler Kurz und Vizekanzler Strache zu den Lohnverhandlungen.