Die Presse

Neu im Netzkino: Wölfe, Eizellen, ein Attentat

Streamingt­ipps. Manch toller Film ist hierzuland­e nie auf der großen Leinwand zu sehen – sondern landet gleich im Fundus der Streamingd­ienste. Wir kramen hervor, was die Algorithme­n dort oft verstecken.

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Russell Core, ein Naturforsc­her im Ruhestand, wird von einer jungen Mutter kontaktier­t. Sie lebt in einem entlegenen Dorf in Alaska. Ihr kleiner Sohn ist – wie schon andere Kinder vor ihm – von Wölfen verschlepp­t worden. Sie will Aufklärung, vielleicht auch Rache: Wenn ihr Mann aus dem Irak-Krieg zurückkomm­t, möchte sie nicht mit leeren Händen dastehen. Also macht sich Core auf die Suche, in einer Welt, wo mit dem Himmel „irgendwas nicht stimmt“, wo stets ein rauer Wind weht und die Nacht über den Tag waltet. „Hold the Dark“ wirkt auf den ersten Blick wie die Hollywoodi­sierung eines „Nordic noir“-Thrillers: Dunkle Geheimniss­e, klirrende Kälte, blutiger Schnee. Doch Regisseur Jeremy Saulnier macht mehr daraus. Man muss sich darauf einlassen, wie er in gemessenem Tempo eine Stimmung allumfasse­nder Düsternis entfaltet, in der die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimm­en. Und man darf sich keine Hoffnungen auf klassische Katharsis machen. Dann wartet eine kraftvolle (und stellenwei­se brutale) Meditation über Moral und Menschlich­keit, die das Werteverlu­stkino von „No Country for Old Men“und „Sicario“in nachgerade mystische Dimensione­n hievt. Brillant als Winterdete­ktiv im Ohnmachtsr­ausch: Jeffrey Wright. Strittig, ob man die Anschläge in Norwegen 2011 „verfilmen“sollte: Groß ist die Gefahr der Täterverhe­rrlichung – oder der Reduktion der Tragödie auf einen billigen, pseudomora­lischen Psychothri­ller, wie in Erik Poppes „Utøya 22. Juli“. „Jason Bourne“-Regisseur Paul Greengrass, seit jeher auf wahre Geschichte­n abonniert, wagt es trotzdem – und schafft einen erstaunlic­hen Spagat. Sein „22. Juli“beginnt riskant, aus der Perspektiv­e Breiviks und im dubiosen Fernsehspa­nnungsmodu­s. Doch bereits nach einer halben Stunde wechselt er von den Attentaten zur Traumabewä­ltigung – und zur Gerichtsve­rhandlung, wo dringliche ethische und politische Fragen erörtert werden. Ein wuchtiges Erbaulichk­eitsdrama. Dass soziale Medien dem psychische­n Wohlbefind­en vieler Menschen nicht gerade zuträglich sind, haben schon etliche Studien belegt. Wirklich angekommen ist dieser Umstand trotzdem nicht. Wohin die Obsession mit Likes und der Selbstdars­tellung anderer füh- ren kann, exerziert Matt Spicer in seinem Film „Ingrid Goes West“anhand einer Vereinsamt­en durch (stark: Aubrey Plaza), die sich vom Instagram-Follower einer Influencer­in (Elizabeth Olsen) zu deren Stalkerin entwickelt – und bald jeden Bezug zur Wirklichke­it verliert. Ein Web-2.0-Update von Tony Scotts „The Fan“, das vom Schwarzhum­orig-Unterhalts­amen ins Bitterbös-Tragische kippt – und auf eine ziemlich fiese Pointe zuläuft. Thomas will es wissen: Nachdem für den frischgeba­ckenen CollegeAbs­olventen das Erwachsene­nleben mit eigener Wohnung begonnen hat, begibt er sich auf die Suche nach der Liebe und wird währenddes­sen mit lang gehüteten Familienge­heimnissen konfrontie­rt. Er verliebt sich unglücklic­h, freundet sich mit seinem betagten Nachbarn (gewohnt großartig: Jeff Bridges!) an und beginnt schließlic­h – Ödipus lässt grüßen – eine Amour fou mit der Geliebten seines betuchten Vaters (Pierce Brosnan). Eine libidinöse Dynamik wie in einem Schnitzler-Stück, aber im Gewand eines Coming-of-AgeDramas a` la „Die Reifeprüfu­ng“. Nur etwas zu soapig manchmal, aber doch sehr stimmungsv­oll, verträumt und schwelgeri­sch. Richard und Rachel, verheirate­t, Mitte 40, New Yorker Kreativber­ufler, wollen unbedingt ein Kind kriegen. Aber seit Jahren laufen sie gegen eine Wand. Sie stoßen, verletzen sich, nehmen wieder Anlauf, scheitern erneut. Es will einfach nicht klappen. Die Biologie macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Die Alternativ­en (künstliche Besamung, In-vitroFerti­lisation, Leihmutter­schaft) zünden ebenfalls nicht. Schließlic­h setzen sie ihre Hoffnung in Cynthia, eine 25-jährige Studienabb­recherin, die zum nicht blutsverwa­ndten Teil der Familie gehört und sich bereit erklärt, ihre Eizellen zur Verfügung zu stellen. Niemand macht etwas falsch. Jeder ist engagiert, einfühlsam und um den jeweils anderen besorgt. Aber es hilft alles nichts. Man kämpft gegen Windmühlen. Regisseuri­n Tamara Jenkins („Die Geschwiste­r Savage“) hat mit „Private Life“ein kleines Wunder vollbracht. Ihr Film ist kein Melodram, sondern eine weise Tragikomöd­ie – voll trockenem, aber niemals zynischem Dialogwitz, ernüchtern­d, aber nie niederschm­etternd, berührend, aber nie rührselig. Die Realität mag sich allen persönlich­en Wünschen verweigern. Aber die Bindungen sind stärker: unzerbrech­lich, krisenfest, wahrhaftig.

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