Die Familie – oder warum mir Christian Kern jetzt schon fehlt
Irgendwo auf dem Weg hat Kern die Orientierung verloren. Das viele Geld hat ihn, wie schon viele andere, benebelt.
C hristian Kern, heute 52, wurde im Alter von 22 Jahren erstmals Vater. Nach der Trennung von der Kindesmutter zog er seinen ersten Sohn einige Jahre lang allein auf. Ich bin ein flammender Verfechter von Familienwerten, dieses biografische Detail macht mich platt. Kern hat in einem Wahlvideo erzählt: „Ich hab nachts gelernt fürs Studium, um tagsüber für ihn da sein zu können.“Ich erinnere mich meiner Jugend: Als ich 22 und auch noch als ich 32 war, hatte ich andere Prioritäten als zwölf Mal am Tag zu wickeln. Bei allem Spott, den der kürzestdienende Kanzler dieser Republik auf sich zog, musste ich immer auch an diesen aufrechten jungen Vater denken.
Es ist gute Usance, dass österreichische Medien das Privatleben von Politikern respektieren, dass wir also nur gerüchteweise von Lüge und Gewalt hinter den Homestorys der Regierenden erfahren. Ich kommentiere daher nur den Teil des Familienlebens, den Politiker öffentlich preisgeben. Der Kanzler läuft außer Konkurrenz, er hat noch Zeit. Der Vizekanzler hingegen ist wirklich alt genug für den anvisierten Papamonat. Mit einem Portefeuille namens Hahnenkammrennen hat er eh keinen richtigen Job.
Von den Familienwerten des Christian Kern aber – er hat es in zwei Ehen auf vier Kinder gebracht – können wir uns alle eine Scheibe abschneiden. Kerns politisches Kapital war enorm. Er war so herzeigbar, Humphrey Bogart himself hatte sich im Kanzleramt reinkarniert, seine Kleidung war sogar auf den Griff seines Fahrrads abgestimmt. In meinem Dorf hängen noch die Wahlplakate, Kern in abendlich warmen Farbtönen mit verspielten Kindern.
Was ist nur geschehen? Ich fürchte, das Übliche. Spätestens seit er das Ceta-Votum der SPÖ-Basis übergangen hatte, konnte auch Christian Kern die Interessen des roten Wählers kaum noch in Einklang bringen mit den Leidenschaften des roten Adels – Multikulti mit immer inkompatibleren Kulturen, Lobbypolitik für immer kleinere Minderheiten. Der Hackler weiß zwar, dass die SPÖ im Zweifelsfall mehr für ihn tut als andere Parteien. Er spürt aber auch, dass die Bobos, die seine Interessen vertreten, ihn kulturell verachten. Darum wählt er, manchmal sogar gegen seine wirtschaftlichen Interessen, rechts. V on Christian Kern nehme ich an, dass er Arbeiter gernhat. Ich zumindest glaube ihm die Kindheitserzählungen aus dem Wahlvideo, den Stolz und die Demütigung eines Kindes armer Leute aus Simmering. Irgendwo auf dem Weg hat Kern dann die Orientierung verloren. Man hörte es seiner Sprache an. Er schwurbelte von „Repräsentanteninstitutionen“, von „Wertekompass“, „Wertekatalog“und „Wertekostüm“. Damit verriet er sich. Ein Katalog ist zum Einkaufen da und ein Kostüm für den Fasching.
Was war da nur geschehen? Nichts Besonderes. Das viele Geld hat Christian Kern, wie so viele andere, benebelt. Sein Plan vom Absprung ins Europaparlament passte in diese Logik: Der, als der sich Kern zuletzt verkauft hat, hätte sich dort wohlgefühlt.
Das war aber nicht der wahre Christian Kern. Den Wahren werden wir nicht mehr kennenlernen, er hätte ein Vorbild abgeben können, und er fehlt mir schon jetzt. Seine Jahre als alleinerziehender Vater haben bewiesen, dass unter der 95-prozentigen Schicht von Marketing ein gutes, starkes, väterliches Herz schlägt. Ich wünsche ihm, dass ihn dieses Herz wieder führt.