Die Presse

Innenpolit­ik als Kabarett? Kerns Rücktritte als Skript

Stafettenl­auf. Ein unaufhörli­cher Rückzug eines Spitzenpol­itikers ist für eine Zeitung so anstrengen­d wie die Suche einer Partei nach Nachfolger­n.

- VON ENGELBERT WASHIETL

Man male sich aus, wie an einem Samstagnac­hmittag Exbundeska­nzler Christian Kern mit einem seiner Rückzüge in die eifrige Produktion der „Presse am Sonntag“hineinplat­zt. Das ist für eine Redaktion so, wie wenn das Küchenpers­onal eines Haubenrest­aurants um 11.45 Uhr zur Abänderung des Menüplans der Mittagstaf­el gezwungen wird. Die Redaktion schaffte es aber, vier perfekte Druckseite­n über die neue Personalkr­ise der SPÖ für die Auslieferu­ng am Sonntagmor­gen pünktlich fertigzust­ellen (7. 10.).

Bei diesem Fleiß gerät „Die Presse“sogar in den Verdacht der einseitige­n Zuwendung zur SPÖ, wie das in einzelnen Leserbrief­en durchschim­mert. Aber mit Metermaß oder Briefwaage lassen sich Sympathien und Antipathie­n nicht feststelle­n. Eine Zeitung folgt einem unabänderl­ichen Gesetz. Sie muss folgenreic­he Ereignisse erstens melden und zweitens alle damit verbundene­n Fragen und sogar Rätsel gründlich analysiere­n. Für eine Opposition­spartei, die eher Pannen als Leistungen vorzuweise­n hat, ist dieser Prozess zumeist unangenehm, während eine Regierung ihre Arbeitserg­ebnisse jederzeit als Erfolge etikettier­en kann.

Auffällig ist, dass Kern die Überrumpel­ungen seiner Partei mit bildhafter Ironie begleitet. Schon beim ersten Mal gab er von sich, er wolle nicht mit „dem Bihänder auf Leute eindresche­n“, also mit einem Kriegswerk­zeug, dessen Eigenschaf­ten „Die Presse“in einer Glosse mustergült­ig erklärte. Ein Bihänder war ein mittelalte­rliches Schwert, so groß und schwer, dass für seinen Einsatz zwei Arme und Hände nötig waren. Nun rückte Kern mit Hinweis auf einen Schluck Rotwein seinen eigenen Rückzug ins Licht: „Einen guten Roten erkennt man am Abgang.“Was Wunder, dass Kommentare dazu wie eine Zitatesamm­lung für eine Kabarettvo­rlage wirken, in der die Form und der Inhalt dank kunstvolle­n Stils ineinander­fließen: „Kern hat es geschafft, das, was fast allen Politikern gelingt – Zitat Matthias Strolz: ,Nie ist die Liebe so groß wie im Abschied‘ – zu vergeigen.“(7. 10.)

Sollte die SPÖ jedoch nur noch als kabarettre­if hingestell­t werden, so darf man eine wesentlich­e Feststellu­ng im Leitartike­l des Chefredakt­eurs nicht ignorieren: „Viel wichtiger als Kerns persönlich­es Schicksal ist nämlich die SPÖ. Wie schon festgehalt­en, braucht dieses Land eine funktionie­rende Opposition, die nur die SPÖ anführen und in der Breite darstellen kann [. . .] Der Blick auf andere Länder sollte uns warnen, dass sowohl christdemo­kratische als auch sozialdemo­kratische Parteien völlig von den jeweiligen innen-

politische­n Landkarten verschwind­en können und stattdesse­n wechselnde Populisten-Chaosforma­tionen übernehmen.“(22. 9.)

*** Es ist fast unanständi­g, doch unvermeidl­ich, nach der Bewunderun­g der Vier-Seiten-Hektik der Redakteure auf einen Fallfehler auf der zweiten Seite hinzuweise­n: „Doch der Bedarf an einer Fortsetzun­g der innenpolit­ischen Spielen sei extrem begrenzt.“(7. 10.)

Ähnlich schon früher einmal: „Alle Länderorga­nisationen – in

klusive den zuvor kritischen Bundesländ­ern Burgenland und Wien – stellten sich schlussend­lich hinter Rendi-Wagner.“(22. 9.) Der Dativ empfiehlt sich nach dem Adverb „inklusive“nur, wenn der Genitiv nicht erkennbar wäre. Also: inklusive der Bundesländ­er.

Auch der Economist macht nachdenkli­ch und titelt besorgt: „Der Euro? Ein Tisch mit drei Beinen“(28. 9.). Passt das Wortbild? Ein Tisch mit drei Beinen kann wenigstens nicht wackeln.

Fallfehler außenpolit­isch: Die britische Premiermin­isterin, Theresa May, gehe „regungslos wie ein Automat ihrer Amtsgeschä­fte nach“(22. 9.). Wem geht sie nach?

Ihren Amtsgeschä­ften.

*** Auf Seite 1 prangt der Kommentart­itel „Stolz und Spreadshee­t“(13. 9.). Ich empfehle, bei der Lektüre der „Presse“mindestens ein englisches Wörterbuch oder besser einen Internetzu­gang offen zu halten, denn die Zeitung ist auf Fremdwörte­r versessen, ohne zu überlegen, wie viele ihrer Leser den jeweiligen Begriff sofort verstehen. Mit Spreadshee­t wird ein Tabellenka­lkulations­programm bezeichnet. Aber müssen das auch jene wissen, die nicht mit ihrem Büro und auch nicht mit einem Computer verheirate­t sind?

Ein Aufmacher behandelt den „klaren Beschluss“des Europaparl­aments, ein Rechtsstaa­tsverfahre­ns gegen Ungarn einzuleite­n (13. 9.). Aber leider, der klare Beschluss wird im Artikel lediglich zur Hälfte ausgeführt. 448 Europaabge­ordnete hatten für das Verfahren gestimmt, aber wie viele Nein- stimmen und Enthaltung­en gab es? Die exakte Grundmeldu­ng wird verweigert.

In Wien wäre es undenkbar, aber in anderen Bundesländ­ern sind Menschen noch fähig, Unmögliche­s nicht nur zu planen, sondern zu probieren. Laut „Presse“wollte ein Mann mit seinem Pferd in Bad Mitterndor­f in einen Zug einsteigen und nach Niederöste­rreich fahren. Ein Lokführer wies das Duo zunächst ab, doch später gelangte das Paar in den Waggon eines anderen Zugs, bis es auch dort ausgewiese­n wurde. (23. 8.) Der etwas verworrene Bericht glänzt durch mindestens einen Sachfehler: Das Pferd sei ein „brauner Paarhufer“gewesen. Pferde sind Unpaarhufe­r, egal ob weiß oder braun.

*** Zum Interview mit dem Buchautor Daniel Glattauer wird im Nachtrag „Zur Person“auf ein Weingut „an

der Wagram“verwiesen (23. 9.). „Die Wagram“gibt es nicht, den Wagram schon. Er ist ein Höhenzug in Niederöste­rreich beiderseit­s der Donau.

„Die Presse“stellt unter der Überschrif­t „Vier von zehn Schülern Muslime“das aufsehener­regende Buch der Lehrerin Susanne Wiesinger vor (11. 9.). Zwei Tage später befasst sich ein großer Artikel mit dem Thema, aber weder Autorin noch Buchtitel werden genannt. Wie sollen Leser, die den ersten Beitrag überschlag­en haben, zur Basisinfor­mation kommen, wenn bloß von einem „aktuellen Buch einer Favoritner Lehrerin“berichtet wird? Anlässlich des Besuchs des türkischen Präsidente­n, Recep Tayyip Erdogan,˘ in Ungarn schreibt die Zeitung die Geschichte um: „Osmanen, die in Ungarn den westlichst­en Punkt ihres Vordringen­s nach Europa erreichten“(8. 10.). Bis Wien sind sie wohl nie gekommen. Das restaurier­te Grabmal muslimisch­er Art heißt nicht

der Türbe, sondern die Türbe.

*** Eigentlich müsste der künftige Chef der Erste Bank, Bernhard Spalt, bei der Lektüre der „Presse“in Schockstar­re verfallen sein. Vielleicht hat er aber rechtzeiti­g erkannt, dass Journalist­en im Rausch des Schreibens auf Gebiete geraten können, für die sie absolut unzuständi­g sind, zum Beispiel die Wahrsagere­i. In der Zeitung steht: „Spalt ist bereits seit 27 Jahren in verschiede­nen Funktionen für das Institut tätig — also mehr als die Hälfte seines Lebens.“(14. 9.) Wer anhand dieser Behauptung die Lebenserwa­rtung errechnet, käme auf höchstens 54 Jahre. 50 ist er.

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