Die Presse

Was wäre gewesen, wenn . . . Geständnis eines Versagens

Aus Anlass des Todes von Jörg Haider vor zehn Jahren ist es Zeit für einen nüchternen Blick auf die Fehler der rot-schwarzen Koalitione­n und der Medien.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Anneliese Rohrer ist Journalist­in in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

Der zehnte Jahrestag einer verhängnis­vollen „Selbstvern­ichtung“, wie der Verfassung­srechtler Günther Winkler den tödlichen Unfall Jörg Haiders in der ORF-Sendung „Menschen & Mächte“nannte, ist vorüber. Der Tag der Heuchelei auch.

Angesichts der Bilder eines fröhlich lachenden Vizekanzle­rs Heinz-Christian Strache mit der ebenfalls lachenden Witwe Haiders im Kärntner Bärental drängte sich die Frage auf: Wie viel Heuchelei verträgt das Land? War Haider für Strache nicht ein „charakterl­oser Judas“, ein „falscher Prophet“, ein „Ortstafelr­umpelstilz­chen“, ein „gescheiter­ter Altpolitik­er“, der sich als Mehrheitsb­eschaffer für die ÖVP auf den „Komposthau­fen der Geschichte begeben hat“und dort als „Orange“alias BZÖ dahinfault? Und dafür nun eine Medaille von Claudia Haider?

Ist das überhaupt zu erklären, außer mit kollektive­r blauer Amnesie, also Gedächtnis­störung? Damit könnte man auch rechtferti­gen, dass sich der jetzige FPÖ-Landespart­eichef, Gernot Darmann, unfreiwill­ige Komik leistete, als er bei der Gedenkstät­te für Haider von dessen „unzähligen Projekten“sprach, die bis heute in Kärnten nachwirkte­n: Hypo Alpe Adria, sicher! Ein Land am Rand des Konkurses? Abbau eines immensen Schuldenbe­rgs? Ein SPÖ-Landeshaup­tmann als Nachfolger? Das mit dem Nachwirken stimmt, aber nicht so, wie es sich ein schlichter FPÖ-Politiker vorstellt.

Vielleicht ist die unangemess­ene „Heldenvere­hrung“der letzten Tage eine gute Gelegenhei­t, einen (selbst)kritischen Blick auf die Ära Haider zu werfen. Denn der Verlauf des politische­n Weges Haiders wurde nicht zuletzt auch von anderen Parteien und Medien bestimmt.

Es lohnt sich daher, folgende Frage zu stellen: Was wäre gewesen, wenn wir in den Medien in den 1990er-Jahren Haiders Kritik an der Ausländer- und Integratio­nspolitik der rot-schwarzen Koalition und vor allem der tiefroten Wiener Stadtregie­rung nicht als verwerflic­he Antiauslän­derhetze abgetan hätten? Was, wenn wir wirklich in die Problemzon­en in Wien und anderswo ausgeschwä­rmt wären, die Defizite von damals beschriebe­n und so lang darauf gedrängt hätten, bis Bund und Länder entspreche­nde Maßnahmen ergriffen hätten? Das hätte wahrschein­lich die Entwicklun­g zu jenen Parallelge­sellschaft­en verhindern können, aus deren Verteufelu­ng sich heute ein Gutteil der Unterstütz­ung von ÖVP und FPÖ speist. Das hätte damals schon zu einer anderen Schulpolit­ik führen können. Die Umtriebe moslemisch­er Religionsl­ehrkräfte an den Schulen waren schon vor Jahrzehnte­n bekannt.

Was, wenn wir während und nach der ersten starken Flüchtling­swelle auf einer Reform der damals nachweisli­ch überforder­ten und personell inferior ausgestatt­eten Fremdenbür­okratie bestanden hätten? Manche Bescheide von damals unter Innenminis­ter Franz Löschnak (SPÖ) waren so haarsträub­end in ihren Begründung­en wie jene Ablehnunge­n von Asylanträg­en heute. Wahrschein­lich müssten sich heute NGOs nicht den Vorwurf der Verschlepp­ung gefallen lassen, wenn sie Ablehnunge­n anfechten, weil diese fehlerhaft und bösartig sind.

Was, wenn wir Haiders Kritik am rot-schwarzen Filz in den 1990er-Jahren mehr Gehör geschenkt hätten? Und die damalige Große Koalition medial zu Änderungen und Privilegie­nabbau gezwungen hätten? Wenn wir penibel den Wahrheitsg­ehalt seiner Kritik aufgegriff­en, Halbwahrhe­iten überprüft und Lügen offengeleg­t hätten? Vielleicht wäre dem Land dann viel von jener Politikver­drossenhei­t und AntiEstabl­ishment-Wut erspart geblieben, mit der die FPÖ unter stillschwe­igender Duldung der ÖVP ihren Mangel an Empathie (und anderes) rechtferti­gt.

Zehn Jahre nach dem Tod Jörg Haiders ist es Zeit, ein Geständnis des Versagens abzulegen. Unreflekti­erte Politikerv­erehrung ist so schädlich für die Demokratie wie reflexhaft­e Ablehnung. Das sollten wir gelernt haben.

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VON ANNELIESE ROHRER

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