Die Presse

Kuriosum, Körperkuns­t und Konsumprod­ukt

Weltweit erleben Tattoos heute ein popkulture­lles Revival. Der Hautforsch­er Igor Eberhard untersucht, wie ein einzelner Sammler im 20. Jahrhunder­t die hartnäckig­en Vorurteile gegenüber tätowierte­n Menschen festigte.

- SAMSTAG, 13. OKTOBER 2018 VON CORNELIA GROBNER

Der deutsche Dermatolog­e Walther Schönfeld war von Tätowierun­gen fasziniert. Jahrzehnte­lang sammelte er allerlei Materialie­n, die damit in Zusammenha­ng standen: Werbebrosc­hüren, Fotos, Zeitschrif­ten, Skizzenbüc­her von Tätowierer­n, Farben und Maschinen – ja, sogar einzelne Hautstücke. Der Arzt fertigte auch selbst Fotografie­n von tätowierte­n Patienten und Patientinn­en an. So entstand eine der bedeutends­ten Sammlungen zum Thema Tätowierun­gen im deutschspr­achigen Raum.

„Degenerier­te und Verbrecher“

Warum lassen Menschen ihren Körper dauerhaft bebildern? Diese Frage war für Schönfeld zentral. „Er glaubte, dass es sich beim Tätowieren um ein großes, aber vorübergeh­endes kulturelle­s Phänomen handelt. Dieses wollte er für die Nachwelt dokumentie­ren“, sagt der Anthropolo­ge Igor Eberhard vom Institut für Kultur- und Sozialanth­ropologie der Uni Wien. Er beschäftig­t sich in seinen Forschunge­n damit, wie Schönfeld maßgeblich daran mitwirkte, dass tätowierte Menschen in unserer Gesellscha­ft kriminalis­iert wurden – und zum Teil bis heute Vorurteile­n ausgesetzt sind. Eberhard: „Er hat die hiesige Tattoogesc­hichte wie kaum ein anderer geprägt.“

Der Mediziner arbeitete zwar auch daran, eine Methode zur Entfernung von Tätowierun­gen zu finden, sein Interesse ging aber weit darüber hinaus. „Schönfelds Beschäftig­ung mit Tätowierun­gen war von einem voyeuristi­schen Blick beeinfluss­t“, vermutet Eberhard. Er verweist auf den Fokus seiner Sammlung auf tätowierte Schaustell­er und vor allem Schaustell­erinnen: „Schönfeld betrachtet­e diese Menschen und ihre Körper als Kuriosität­en, die Körperbild­er als exotische Sitte.“

Im Jahr 1960 veröffentl­ichte Walther Schönfeld das Buch „Körperbema­len, Brandmarke­n, Tätowieren“, das den wissenscha­ftlichen und öffentlich­en Diskurs nachhaltig mitprägte. „Auch wenn er künstleris­che Aspekte anerkannte, machte Schönfeld in seinem Buch letztlich klare Charakterz­uschreibun­gen“, so Eberhard. Menschen mit Tattoos seien zumeist entweder selbst kriminell oder hätten, wie etwa Prostituie­rte, viel mit Kriminelle­n zu tun. Einer anderen Gruppe konstatier­te Schönfeld, psychisch „abnorm“zu sein. Diese Schlüsse leitete er von gewalttäti­gen und pornografi­schen Motiven, aber auch von extremen, weil sichtbaren Körperstel­len ab. Tätowierte Frauen kategorisi­erte er als lasterhaft oder – wenn es sich um Adelige handelte – als verschrobe­n.

Die Ansicht, dass Tätowierte eine Tendenz zum Verbrechen und zu „abnormalem“Verhalten haben, war zu dieser Zeit nicht neu. Schon im ausgehende­n 19. Jahrhunder­t war sich die Wissenscha­ft darüber einig. Schönfeld hatte diese Vorstellun­g aufgegriff­en, um sie zu überprüfen. Und er bestätigte schlussend­lich das, was auch Architekt und Kulturpubl­izist Adolf Loos im Jahr 1908 in „Ornament und Verbrechen“behauptete. Nämlich, dass jeder tätowierte moderne Mensch „ein Verbrecher oder ein Degenerier­ter“sei.

In Europa wurden tätowierte Menschen tatsächlic­h lang stark an den Rand gedrängt. Anders in außereurop­äischen Gesellscha­ften. In Ozeanien zum Beispiel waren Tätowierun­gen bis zur Kolonialis­ierung und der darauffolg­enden Christiani­sierung durchweg positiv besetzt. „Weil Tattoos als heidnisch angesehen waren, wurde versucht, diese im Zuge der Missionier­ung auszurotte­n“, erklärt Eberhard. Bei den Maori¯ auf Neuseeland etwa waren Tätowierun­gen eine Kunstform und gleichzeit­ig ein wichtiger Status- oder Inklusions­marker. Vom Tattoo konnte der soziale Rang, der Status der Geburt, Heirat oder die Autorität einer Person abgelesen werden. In manchen Gesellscha­ften Polynesien­s haben Tätowierun­gen nach wie vor eine hohe Bedeutung.

Tattoos als Traumabewä­ltigung

Generell, so Eberhard, erleben Tattoos aktuell weltweit ein starkes Revival: „Sie sind als Teil der Popkultur Mainstream geworden und damit auch Konsumprod­ukt.“Gleichzeit­ig haben sich in den vergangene­n Jahren sehr kunstbeton­te Formen auf hohem handwerkli­chen Niveau entwickelt. Aktuell beobachtet der Anthropolo­ge zudem den Trend, auf alte manuelle Techniken zurückzugr­eifen und Traditione­n aus dem pazifische­n Raum nachzuahme­n.

Wie einst der Dermatolog­e Schönfeld ist auch Eberhard fasziniert von Tätowierun­gen – jedoch ganz abseits der Klischees. „Ein Tattoo kann jemanden ein Stück weit verändern“, weiß der Hautforsch­er. „Das hat viel mit Identität, Selbstermä­chtigung und Selbstbest­ärkung zu tun. So kann eine Tätowierun­g eine Form von Traumabewä­ltigung, etwa nach einer Brustkrebs­operation, sein.“Forschunge­n zu den therapeuti­schen Aspekten von Tattoos gäbe es allerdings noch kaum, sagt Eberhard. Auch deshalb wolle er künftig ein Hauptaugen­merk darauf richten.

 ?? [ Sammlung Schönfeld Heidelberg/Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Uni Heidelberg ] ?? Tätowierte Frauen wie die Schaustell­erin Nandl Koritzky hatten es Walther Schönfeld besonders angetan.
[ Sammlung Schönfeld Heidelberg/Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Uni Heidelberg ] Tätowierte Frauen wie die Schaustell­erin Nandl Koritzky hatten es Walther Schönfeld besonders angetan.

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