Kuriosum, Körperkunst und Konsumprodukt
Weltweit erleben Tattoos heute ein popkulturelles Revival. Der Hautforscher Igor Eberhard untersucht, wie ein einzelner Sammler im 20. Jahrhundert die hartnäckigen Vorurteile gegenüber tätowierten Menschen festigte.
Der deutsche Dermatologe Walther Schönfeld war von Tätowierungen fasziniert. Jahrzehntelang sammelte er allerlei Materialien, die damit in Zusammenhang standen: Werbebroschüren, Fotos, Zeitschriften, Skizzenbücher von Tätowierern, Farben und Maschinen – ja, sogar einzelne Hautstücke. Der Arzt fertigte auch selbst Fotografien von tätowierten Patienten und Patientinnen an. So entstand eine der bedeutendsten Sammlungen zum Thema Tätowierungen im deutschsprachigen Raum.
„Degenerierte und Verbrecher“
Warum lassen Menschen ihren Körper dauerhaft bebildern? Diese Frage war für Schönfeld zentral. „Er glaubte, dass es sich beim Tätowieren um ein großes, aber vorübergehendes kulturelles Phänomen handelt. Dieses wollte er für die Nachwelt dokumentieren“, sagt der Anthropologe Igor Eberhard vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Uni Wien. Er beschäftigt sich in seinen Forschungen damit, wie Schönfeld maßgeblich daran mitwirkte, dass tätowierte Menschen in unserer Gesellschaft kriminalisiert wurden – und zum Teil bis heute Vorurteilen ausgesetzt sind. Eberhard: „Er hat die hiesige Tattoogeschichte wie kaum ein anderer geprägt.“
Der Mediziner arbeitete zwar auch daran, eine Methode zur Entfernung von Tätowierungen zu finden, sein Interesse ging aber weit darüber hinaus. „Schönfelds Beschäftigung mit Tätowierungen war von einem voyeuristischen Blick beeinflusst“, vermutet Eberhard. Er verweist auf den Fokus seiner Sammlung auf tätowierte Schausteller und vor allem Schaustellerinnen: „Schönfeld betrachtete diese Menschen und ihre Körper als Kuriositäten, die Körperbilder als exotische Sitte.“
Im Jahr 1960 veröffentlichte Walther Schönfeld das Buch „Körperbemalen, Brandmarken, Tätowieren“, das den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs nachhaltig mitprägte. „Auch wenn er künstlerische Aspekte anerkannte, machte Schönfeld in seinem Buch letztlich klare Charakterzuschreibungen“, so Eberhard. Menschen mit Tattoos seien zumeist entweder selbst kriminell oder hätten, wie etwa Prostituierte, viel mit Kriminellen zu tun. Einer anderen Gruppe konstatierte Schönfeld, psychisch „abnorm“zu sein. Diese Schlüsse leitete er von gewalttätigen und pornografischen Motiven, aber auch von extremen, weil sichtbaren Körperstellen ab. Tätowierte Frauen kategorisierte er als lasterhaft oder – wenn es sich um Adelige handelte – als verschroben.
Die Ansicht, dass Tätowierte eine Tendenz zum Verbrechen und zu „abnormalem“Verhalten haben, war zu dieser Zeit nicht neu. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert war sich die Wissenschaft darüber einig. Schönfeld hatte diese Vorstellung aufgegriffen, um sie zu überprüfen. Und er bestätigte schlussendlich das, was auch Architekt und Kulturpublizist Adolf Loos im Jahr 1908 in „Ornament und Verbrechen“behauptete. Nämlich, dass jeder tätowierte moderne Mensch „ein Verbrecher oder ein Degenerierter“sei.
In Europa wurden tätowierte Menschen tatsächlich lang stark an den Rand gedrängt. Anders in außereuropäischen Gesellschaften. In Ozeanien zum Beispiel waren Tätowierungen bis zur Kolonialisierung und der darauffolgenden Christianisierung durchweg positiv besetzt. „Weil Tattoos als heidnisch angesehen waren, wurde versucht, diese im Zuge der Missionierung auszurotten“, erklärt Eberhard. Bei den Maori¯ auf Neuseeland etwa waren Tätowierungen eine Kunstform und gleichzeitig ein wichtiger Status- oder Inklusionsmarker. Vom Tattoo konnte der soziale Rang, der Status der Geburt, Heirat oder die Autorität einer Person abgelesen werden. In manchen Gesellschaften Polynesiens haben Tätowierungen nach wie vor eine hohe Bedeutung.
Tattoos als Traumabewältigung
Generell, so Eberhard, erleben Tattoos aktuell weltweit ein starkes Revival: „Sie sind als Teil der Popkultur Mainstream geworden und damit auch Konsumprodukt.“Gleichzeitig haben sich in den vergangenen Jahren sehr kunstbetonte Formen auf hohem handwerklichen Niveau entwickelt. Aktuell beobachtet der Anthropologe zudem den Trend, auf alte manuelle Techniken zurückzugreifen und Traditionen aus dem pazifischen Raum nachzuahmen.
Wie einst der Dermatologe Schönfeld ist auch Eberhard fasziniert von Tätowierungen – jedoch ganz abseits der Klischees. „Ein Tattoo kann jemanden ein Stück weit verändern“, weiß der Hautforscher. „Das hat viel mit Identität, Selbstermächtigung und Selbstbestärkung zu tun. So kann eine Tätowierung eine Form von Traumabewältigung, etwa nach einer Brustkrebsoperation, sein.“Forschungen zu den therapeutischen Aspekten von Tattoos gäbe es allerdings noch kaum, sagt Eberhard. Auch deshalb wolle er künftig ein Hauptaugenmerk darauf richten.