Die Geburtsstunde des Dachstuhls
Eine umfassende Untersuchung der Dachlandschaft des ersten Bezirks in Wien brachte viele Entdeckungen: Forscher fanden etwa den „Urahn“des heutigen Dachstuhls.
Die Malteserkirche fügt sich eher unscheinbar in die Fassadenfront der Wiener Kärntner Straße ein. Dahinter bzw. unter dem Dach verbirgt sich jedoch ein Juwel. Denn das Dachwerk, also die Gesamtheit der hölzernen Dachkonstruktion, stammt aus dem Jahr 1312. Damit ist es nicht nur das älteste Dachwerk Wiens, sondern auch eines der ältesten im gesamten deutschen Sprachraum.
„In der heute verfügbaren Literatur haben wir kein vergleichbares Beispiel aus dieser Zeit entdeckt“, sagt Architektin Hanna A. Liebich von der Abteilung für Architektur und Bautechnik des Bundesdenkmalamts. Sie leitet das Forschungsprojekt „Dachkataster Wien – Innere Stadt“, das von Stadt Wien und Bundeskanzleramt finanziert wurde. Insgesamt wurden darin 1400 Objekte hinsichtlich Baualter, Konstruktion und Ausbauzustand kartiert und 90 Einzelobjekte wissenschaftlich im Detail untersucht. Rund 15.000 Fotos, 1456 Dendroproben (siehe Lexikon) zur Holzalterbestimmung, 1200 Datenblätter und 600 Zeichnungen zeigen den Umfang auf. Der entwickelte Dachkataster ist europaweit einzigartig.
Beispiellos ist das Dachwerk der Malteserkirche nicht nur wegen seiner ungewöhnlichen Form: „Dieser Dachstuhl ist ein konservierter Versuch. Wir können nun nachvollziehen, wie sich das stehende Stuhlgerüst von der ersten Idee weg entwickelt hat“, erklärt die Denkmalpflegerin. Später verschmilzt das Hilfsgerüst mit der restlichen Konstruktion, was zum allseits bekannten Dachstuhl führt.
Anhand der Untersuchungen ist es nun zudem möglich, die Entwicklungsgeschichte der Wiener Dachlandschaft nachzuzeichnen und sie, sofern vorhanden, mit jener andernorts zu vergleichen. So fiel etwa auf, dass barocke Dachkonstruktionen in Wien besonders lang – nämlich von 1608 bis 1848, also über 200 Jahre – üblich waren. Warum sie rund 100 Jahre später auftreten als in anderen europäischen Städten, begründet Liebich damit, dass „in Wien lange Zeit ständig aufgestockt wurde und damit die ältesten Beispiele verschwanden. Später war die Konstruktion sehr etabliert und hatte sich eben lang bewährt.“Ihr Nachteil: der immense Holzverbrauch.
Dieser war vermutlich dafür verantwortlich, dass sich in den 1840ern die Pfettenkonstruktion, bei der horizontale Pfetten die Sparren tragen, durchsetzte. Die Konstruktion war flexibler, hatte technische Vorteile gegenüber den barocken Vorgängern, und der Holzbedarf sank um ein Drittel. Das verwendete Holz gibt den Forschern heute darüber Auskunft, wie alt das Dach ist. Dafür hat Liebich mit Michael Grabner, einem Experten für Holzalterbestimmung (Dendrochronologie) der Boku Wien kooperiert. Mittels computerunterstützter Laboruntersuchung ist das Fälldatum der Bohrkerne exakt ermittelbar.
Um auf Nummer sicher zu gehen, sollten pro Dach jedoch mehrere Proben von besonders aussagekräftigen Bauteilen genommen werden. „Wir nehmen mindestens acht, weil ein Drittel meist nicht datierbar ist. Beim Malteserdach waren es zwölf, und wir hatten das Glück, dass sie alle zwischen 1307 und 1312 datierbar waren, also sehr nah beieinander liegen“, sagt Liebich.
Die erarbeitete Entwicklungsgeschichte der Dachkonstruktionen hat auch gezeigt, dass im ersten Bezirk alle gängigen rund 20 Dachformen vertreten sind, mit Ausnahme des klassischen Grabendachs. Eine Dachform war sogar komplett neu, aber typisch für Wien: das Mansard-Firstgrabendach. Dieses erweitert nun heute die Typologie. Diese Vielfalt, wel- che teils Kriege und Brände überdauert hat, sei laut Liebich jedoch durch Unwissenheit bedroht.
Dass im Forschungsprojekt die Dächer aus verschiedenen Epochen so umfassend wie nie zuvor analysiert wurden, bringt auch Vorteile für den Denkmalschutz. Denn die zeitlich exakte Einordnung von Dachwerken war bisher schwierig. Die genaue Kenntnis der Dachwerke macht es Fachleuten nun leichter, dies rasch und präzise zu bewerkstelligen.
Dabei ist jedes für sich ein – anonymes – Kunstwerk. Nur einmal stießen die Forschenden auf Initialen. Ob „FGR“den Namen des Zimmerers verrät? Weitere Forschungen sollen auch dieses Geheimnis lüften.