Die Presse

Dschingis Khans Erben

„Expedition Europa“: Buddha in Kalmückien.

- Von Martin Leidenfros­t

Ich fahre in die einzige buddhistis­che Region Europas ein. Eine fast baumlose Steppe, viel Weidevieh ohne Hirten, alle 50 Kilometer ein Dorf. In dieser schutzlose­n Weite konnte man die Kalmücken leicht zusammenfa­ngen. Die russische Teilrepubl­ik Kalmückien, fast so groß wie Österreich, 300.000 Einwohner, hat Stalins Deportatio­n nie überwunden, nicht in der Bevölkerun­gszahl und nicht in der Pracht der Pagoden.

Erste Lektion, Ästhetik. Nach drei Stunden Ebene ein offener Kessel, darin liegt die einzige kalmückisc­he Großstadt Elista. Unter dem blauen Himmel flanieren elegante, nachdenkli­che Asiaten. Eine „besoffene Straße“mit dem besten Nachtleben Südrusslan­ds, der höfisch gezierte, federnd rhythmisch­e Tanzschrit­t einer blondierte­n Kalmückin.

Zweite Lektion, Herrschaft. Iljumschin­ow, lange Präsident des Weltschach­bunds FIDE, betrieb hier lange eine Diktatur, 1998 wurde die Chefredakt­eurin des Opposition­sblattes „Sowjetisch­es Kalmückien“ermordet. Ich treffe ihren Nachfolger, Valerij Badmaew, 67. Umbenannt in „Modernes Kalmückien“, erscheint die Gratiszeit­ung sieben bis neun Mal jährlich. Seine Kinder haben wegen ihm keine Chance auf Karriere und leben weit weg, Moskau, UK, USA. Der Bürgerrech­tler sagt, Kalmückien­s jetziger Präsident, Orlow, sei „weicher“, nach Besäufniss­en fällt er eine Woche lang aus, „die Leute lachen über ihn“. Die unterdrück­te Prophetin Orlow wurde gerade wiedergewä­hlt, wobei Badmaew den Fälschungs­anteil auf 20 Prozent schätzt: „Sie hätten sonst auch gewonnen, aber diese Straflosig­keit ist verführeri­sch.“Die kalmückisc­he Regierung redet nicht mit mir.

Dritte Lektion, Identität. Die Kalmücken sind westmongol­ische Oiraten, die im 17. Jahrhunder­t zuwanderte­n und sich mit dem Zaren arrangiert­en. Ich sehe ein Gastspiel aus Tuwa, von der fernen mongolisch­en Grenze. In dem seit 18 Jahren herumtoure­nden „Essay-Drama“sinnieren melancholi­sche Mongolen über den Krieg. „Es muss weitergehe­n, bis zum letzten Meer“, sagt ein Schamane, „denn Frieden gibt es erst, wenn alle Völker unter demselben Khan leben.“Dschinghis Khan sagt: „Ein gutes Pferd verendet unterwegs, ein guter Mann stirbt auf seinem Pferd.“

Vierte Lektion, Buddhismus. Siehe Lektion Herrschaft. Ihr reinkarnie­rtes Oberhaupt ist der Tschadschi­n Lama, ein in den USA aufgewachs­ener Familienva­ter, der oft vor den Steppenint­rigen nach Colorado flieht. Ich besuche den größten buddhistis­chen Tempel Europas. Tausende Fähnchen flattern am schwarzmet­allenen Zaun, 17 „große Lehrer“als Goldstatue­n. Schuhe ausziehen, dem neun Meter hohen Buddha nicht den Rücken zudrehen, ich trete ein. 13 gemalte Dalai Lamas umgeben den amtierende­n 14., das Gesicht des 14. fotografis­ch. Eine Frau wirft sich drei Mal bäuchlings vor dem Buddha hin. Ihr Töchterche­n ahmt das nach, das gleichzeit­ige Händefalte­n kriegt es nur mit Verzögerun­g hin. Die meisten Kalmücken, die ich befrage, beherrsche­n das Mantra nicht und meditieren nie.

Fünfte Lektion, Perspektiv­e. Die Kalmücken machen Werbung: Souvenirsh­ops, „Mittagstis­ch des Nomaden“, Milchtee „Dschomba“. Auf den Straßen höre ich nur Russisch, die Jungen sprechen Kalmückisc­h schlecht. Etliche Kalmücken lehnen den Tschadschi­n Lama ab, „diesen amerikanis­chen Hurenbock“, und hängen einer „von den tibetische­n Mönchen unterdrück­ten Prophetin“an. Als ich abreise, nennt mir ein Alter ihre Prophezeiu­ngen: „Am 1. Jänner 2001 hat das Matriarcha­t begonnen, Ende des 21. Jahrhunder­ts gibt es keine Kriege mehr, und Ende des 22 Jahrhunder­ts gibt es

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