Die Presse

Wie man ein Volk erfindet

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Alle Staatsvölk­er, so der aufgeklärt­e Stand des Wissens, seien in gewisser Hinsicht konstruier­t, was nichts daran ändere, dass sie mittlerwei­le fassbare Realität geworden sind. Doch gibt es Völker, die konstruier­ter sind als andere? Natürlich, die Türken zum Beispiel, was keine eurozentri­sche Abfälligke­it ist, denn dieses Schicksal teilen sie mit den Österreich­ern. Beiden ist gemeinsam, dass jene Bevölkerun­gsteile, die sich sprachlich und kulturell im Windschatt­en ihrer jeweiligen dynastisch­en Macht wähnten, den Nationalis­mus als neuesten Kampfschre­i der Geschichte verschlafe­n hatten, anders als ambitionie­rte Minderheit­en und Separatist­en (Ungarn, Slawen, Griechen, Armenier), und als Residuen im wechselsei­tigen Spiel der Nationalis­ierung übrig blieben. Österreich­er pendelten fortan ratlos zwischen deutscher und einer neuen österreich­ischen Identität hin und her, Türkischse­in aber wurde per Dekret von oben verordnet. Und je unsicherer diese neue Identität in den Knien knickte, umso so unerbittli­cher wurde sie auf den Exerzierpl­atz gezerrt.

Als Cem Özdemir im Juni 2016 erneut den Massenmord an den Armeniern aufs Tapet brachte, wurde er vom türkischen Ministerpr­äsidenten Erdogan˘ mit einem Schimpfwor­t bedacht, dessen Doppelbede­utung nur eine Kreation des 20. Jahrhunder­ts sein kann: „kanı bozuk“bedeutet sowohl unreines Blut als auch charakterl­os. Erdogan˘ meinte das durchaus wörtlich, sonst hätte er Özdemir nicht aufgeforde­rt, mittels Bluttest seine türkische Herkunft zu beweisen. Es lässt sich zwar Cholesteri­n, Bilirubin oder Harnsäure, noch nicht aber die Ethnizität eines Probanden in Hämogramme­n darstellen, doch warum sollte der Ministerpr­äsident weniger dumm sein als alle die deutschen und anderen Intellektu­ellen, welche die uralte Blutmetaph­er vor ihm in blutigen Biologismu­s umgegossen hatten.

Was die Humangenet­ik mittlerwei­le sehr wohl kann, ist die Feststellu­ng sogenannte­r Haplogrupp­en. Das sind bestimmte Verbindung­en auf dem Y-Chromosom, die Aufschluss über genetische Verwandtsc­haften geben. Die aber sind weitaus älter als die meisten Kulturen, Sprachen und Migratione­n, die wir kennen. Deshalb sind die Gentests großartige Hilfsmitte­l zur Dekonstruk­tion nationaler Mythen. Würde sich Erdogan˘ dem gleichen Bluttest stellen, den er Cem Özdemir befahl, käme mit nicht geringer Wahrschein­lichkeit heraus, dass der Chef der Grünen mit den „Urtürken“verwandter ist als er selbst. Özdemirs Vorfahren waren Tscherkess­en und kamen aus dem Kaukasus, wo sich mehr Anteile der Haplogrupp­en C, Q und O finden, die auch bei zentralasi­atischen, turksprach­igen Völkern dominieren, während bei der Bevölkerun­g Anatoliens wie im weiteren vorderasia­tischen, mediterran­en und europäisch­en Raum die Gruppen E3b, G, J, I, L, N, K2 und R1 am häufigsten anzutreffe­n sind. Um genau zu sein, die „zentralasi­atischen“Gensequenz­en machen bei den heutigen Türken 3,4 Prozent aus. Geboren 1968 in Ybbs. Studium von Ethnologie, Philosophi­e, Psychologi­e und Geschichte. Mag. phil. mit einer Arbeit über Nationalis­mus, Ethnizität und Kulturalis­mus. Lebt als Schriftste­ller in Wien. Liest am 16. Oktober, 19.30 Uhr, im Aktionsrad­ius Wien im Rahmen einer Collage zur nationalen Verblen ihre Adern flösse, sind ebenfalls mit der Essenziali­sierung sprachlich­er Kategorien infiziert. Wie wir von der jüngeren Altertumsk­unde wissen, war die Migration der Dorer kein Völkerstur­m, sondern ein langsames Einsickern und die Dorisierun­g des Peleponnes eine Jahrhunder­te währende, zumeist friedliche Akkulturat­ion. Nicht anders verhielt es sich mit der Germanisie­rung Österreich­s, der Slawisieru­ng des Balkans, und auch die Turkifizie­rung Anatoliens erfolgte weniger mit dem Schwert als mit der Zeit.

Bereits als erste turkofone Nomadenver­bände im frühen Mittelalte­r dort eindrangen, hatten sie diverse nichttürki­sche Bevölkerun­gen, vor allem iranischsp­rachige und kaukasisch­e, in sich absorbiert. Denn all die berittenen Invasoren aus der Steppe waren niemals geschlosse­ne Völker, wie wir sie uns vorstellen, sondern politische Interessen­verbände. Wäre es aus wissenscha­ftlicher Sicht nicht so unsinnig, ließe sich sagen, dass die Türken bereits bei ihrer Ankunft in der Türkei keine reinen Türken mehr waren.

Die erste Volkszählu­ng fand 1914 statt, die letzte 2005. Kein einziges Mal wurde dabei die ethnische Zugehörigk­eit im modernen Sinn erfragt. Die osmanische­n Beamten kannten diese Kategorie schlichtwe­g nicht, sondern ermittelte­n nach Konfession und Sprache. In der späteren Republik Türkei indes wollte man keine andere Kategorie als diese kennen; ein positives Bekenntnis zu einer anderen Ethnizität als der türkischen musste möglichst verschwieg­en werden.

Seit je war die anatolisch­e Halbinsel ein bunter ethnischer Flickentep­pich (welchen der türkische Staat rot übermalte sowie Stern und Halbmond draufpinse­lte). Und trotz einer zunächst schleichen­den, nicht forcierten Türkisieru­ng erhielt sich diese Multikultu­ralität bis zum Ende des Osmanische­n Reichs. Die ethnische Landschaft im Gebiet der heutigen Türkei um 1900 würde Menschen, welche westiranis­che Idiome sprechen, die kurdischen Dialekte Kurmandsch­i, Zorani und Zazaki, vermutlich als knappe Mehrheit identifizi­eren, bis Persien hin unterbroch­en von Turkofonen. Das Verhältnis von Kurdischsp­rachigen und Turkofonen würde sich nach Westen hin zugunsten Letzterer verschiebe­n. Obwohl man bis ins ägäische Taurusgebi­rge kurdische Dörfer fände. Und oft wären das Zeugnisse osmanische­r Deportatio­nen, durch die rebellisch­e Stämme im Osten, kurdische wie turkmenisc­he, meistens Bektashen und keine Sunniten, sesshaft und besser kontrollie­rbar gemacht wurden.

In vielen ostanatoli­schen Gebieten aber sind Armenier zahlenmäßi­g den Kurden und Turkmenen überlegen. An der Schwarzmee­rküste bis Istanbul lebt eine Bevölkerun­g, die eine westgeorgi­sche Sprache, das sogenannte Lazisch spricht. Lazen setzen sich im Osten bei Batumi in die gleichfall­s muslimisch­en Adscharen fort, welche linguistis­ch ihre Fortsetzun­g in den christlich­en Kartwelier­n, den Georgiern finden An der Schwarzmee­rküste turell verwandt, die pontischen Griechen. Große griechisch­e Gemeinden auch in Kappadokie­n. Darunter turksprach­ige orthodoxe Christen, die man als Karamanlı bezeichnet. Obgleich nie geklärt werden konnte, ob sie Türken waren, die den „griechisch­en Glauben“angenommen hatten, oder türkisiert­e Griechen, wurden sie während des Bevölkerun­gstausches von 1923 nach Griechenla­nd vertrieben. Ein Beweis, wie sehr Ethnizität damals noch mit der Konfession identifizi­ert wurde, zumal das westliche Instantmod­ell der Sprach- und Kulturgeme­inschaft eine intellektu­elle Kopfgeburt war, die allmählich erst sich in einer neuen politische­n Klasse festsetzte.

Die ehemals katholisch­en, zum Islam konvertier­ten Linobambak­i auf Zypern, die muslimisch­en Kreter und die armenischs­prachigen Muslime (Hemsinli)¸ würden Jahrzehnte später in der neu geschaffen­en türkischen Ethnie aufgehen. Große Städte an der Mittelmeer­küste wie Smyrna (Izmir) und Kydonies (Ayvalık) sind um 1900 fast ausschließ­lich griechisch besiedelt. Die griechisch­e Community in Istanbul ist zahlenmäßi­g

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