Eine Reise zu sich selbst
Launig: Chris Kraus beschreibt die Selbstfindung eines Filmstudenten in New York.
Der deutsche Filmstudent und Ich-Erzähler Jonas Rosen verbringt im Herbst 1996 einen Monat in New York, um dort ein Filmprojekt zum Thema Sex umzusetzen. So wie fünf andere Studenten seines berühmten Professors Lila von Dornbusch auch, hinter dem sich unschwer des Autors tatsächlicher Regielehrer Rosa von Praunheim erkennen lässt. Jonas’ schwere Last im Gepäck: das Wissen um seine zurückgelassene eifersüchtige Freundin, Mah, und um seinen Großvater, von dessen NS-Verbrechen er erst spät erfahren hat. Just das Kindermädchen, das im Haus des Großvaters seinen Vater aufgezogen hat, soll er in New York besuchen, eine reiche todkranke Jüdin, die von der Familie Tante Paula genannt wird.
Es werden heftige Tage in New York. Einerseits, weil sich Jonas von Tante Paula nicht in deren Vergangenheit ziehen lassen und keinen „Nazi-Scheiß“, wie er es nennt, über sie drehen möchte, er aber andererseits für die gestellte Aufgabe des Films über Sex zu gehemmt und fantasielos ist. Verschärft wird alles durch die aktuelle Wohnsituation: Über Vermittlung seines Professors kommt Jonas bei dessen Kollegen Jeremiah Fulton unter, einem verwahrlosten schwulen Hünen in einem der gefährlichsten Viertel der Stadt. Genüsslich schildert Chris Kraus das heruntergekommene Heim mit prekären hygienischen Verhältnissen.
Obendrein läuft Jonas eine junge Angestellte des Goethe-Instituts über den Weg, und trotz inneren Sträubens und gegen sein schlechtes Gewissen kommen sich die beiden immer näher. Diese Nele ist eine typische Sommerfrau, nach der Definition von Jonas, leichtsinnig, verschwenderisch und der Zuneigung bedürftig. Mah daheim in Deutschland ist hingegen eine Winterfrau, autark und zuverlässig. Jonas spürt, dass er sich zwischen beiden wird entscheiden müssen.
Ausweichen und Zögern
Es ist ein quälender, zugleich überaus komischer Selbstfindungsprozess, den der Filmstudent in seinem Tagebuch festhält. Dieser Jonas ähnelt der Hauptfigur in Kraus’ vor einem Jahr erschienenen Roman, „Das kalte Blut“. Auch dort ist sich der Ich-Erzähler seiner selbst nicht klar. Das Ausweichen und das Zögern in entscheidenden Situationen verschlimmern die Lage. Statt einzugreifen, wo es nötig ist, sieht er die Geschehnisse wie in einem Film vorüberziehen. Gelähmt Stellung zu nehmen bleibt er meist auf sich bezogen.
Der Charakter ist nicht die einzige Parallele in den zwei Romanen. Auch die familiäre Verstrickung in Nazi-Verbrechen im Baltikum findet in beiden Büchern statt, wie übrigens auch in der realen Familienbiografie des Autors. Stets geht es darum, zu eigener Haltung und richtigem Umgang mit geschehenen Untaten in nächster Umgebung zu finden.
Obwohl Jonas sich entscheidungslos zwischen den existenziellen Klippen hindurchmanövriert, kann sich ihm die Lesersympathie nicht versagen. Kraus beschreibt die Situationen ebenso launig wie intelligent. Dabei spielt die Geschichte ohne auffällige Brüche auf mehreren Zeitebenen: Mitte der 1990er, mit Reflexionen auf die Jahre der Beatniks und der NS-Zeit, alles in einen dünnen Mantel der Jetztzeit eingeschlagen.
Kraus ist ein ausgezeichneter Beobachter der kleinen Dinge, bringt Details in groteske Zusammenhänge und stellt köstliche Vergleiche an, die zudem großes Allgemeinwissen verraten. Dabei bedient er sich einer abwechslungsreichen Sprache, die nicht müde macht und in Bildern erzählt, die den Regisseur und Drehbuchautor erkennen lassen.