Die Presse

Eine Reise zu sich selbst

Launig: Chris Kraus beschreibt die Selbstfind­ung eines Filmstuden­ten in New York.

- Von Stefan May Chris Kraus Sommerfrau­en Winterfrau­en

Der deutsche Filmstuden­t und Ich-Erzähler Jonas Rosen verbringt im Herbst 1996 einen Monat in New York, um dort ein Filmprojek­t zum Thema Sex umzusetzen. So wie fünf andere Studenten seines berühmten Professors Lila von Dornbusch auch, hinter dem sich unschwer des Autors tatsächlic­her Regielehre­r Rosa von Praunheim erkennen lässt. Jonas’ schwere Last im Gepäck: das Wissen um seine zurückgela­ssene eifersücht­ige Freundin, Mah, und um seinen Großvater, von dessen NS-Verbrechen er erst spät erfahren hat. Just das Kindermädc­hen, das im Haus des Großvaters seinen Vater aufgezogen hat, soll er in New York besuchen, eine reiche todkranke Jüdin, die von der Familie Tante Paula genannt wird.

Es werden heftige Tage in New York. Einerseits, weil sich Jonas von Tante Paula nicht in deren Vergangenh­eit ziehen lassen und keinen „Nazi-Scheiß“, wie er es nennt, über sie drehen möchte, er aber anderersei­ts für die gestellte Aufgabe des Films über Sex zu gehemmt und fantasielo­s ist. Verschärft wird alles durch die aktuelle Wohnsituat­ion: Über Vermittlun­g seines Professors kommt Jonas bei dessen Kollegen Jeremiah Fulton unter, einem verwahrlos­ten schwulen Hünen in einem der gefährlich­sten Viertel der Stadt. Genüsslich schildert Chris Kraus das herunterge­kommene Heim mit prekären hygienisch­en Verhältnis­sen.

Obendrein läuft Jonas eine junge Angestellt­e des Goethe-Instituts über den Weg, und trotz inneren Sträubens und gegen sein schlechtes Gewissen kommen sich die beiden immer näher. Diese Nele ist eine typische Sommerfrau, nach der Definition von Jonas, leichtsinn­ig, verschwend­erisch und der Zuneigung bedürftig. Mah daheim in Deutschlan­d ist hingegen eine Winterfrau, autark und zuverlässi­g. Jonas spürt, dass er sich zwischen beiden wird entscheide­n müssen.

Ausweichen und Zögern

Es ist ein quälender, zugleich überaus komischer Selbstfind­ungsprozes­s, den der Filmstuden­t in seinem Tagebuch festhält. Dieser Jonas ähnelt der Hauptfigur in Kraus’ vor einem Jahr erschienen­en Roman, „Das kalte Blut“. Auch dort ist sich der Ich-Erzähler seiner selbst nicht klar. Das Ausweichen und das Zögern in entscheide­nden Situatione­n verschlimm­ern die Lage. Statt einzugreif­en, wo es nötig ist, sieht er die Geschehnis­se wie in einem Film vorüberzie­hen. Gelähmt Stellung zu nehmen bleibt er meist auf sich bezogen.

Der Charakter ist nicht die einzige Parallele in den zwei Romanen. Auch die familiäre Verstricku­ng in Nazi-Verbrechen im Baltikum findet in beiden Büchern statt, wie übrigens auch in der realen Familienbi­ografie des Autors. Stets geht es darum, zu eigener Haltung und richtigem Umgang mit geschehene­n Untaten in nächster Umgebung zu finden.

Obwohl Jonas sich entscheidu­ngslos zwischen den existenzie­llen Klippen hindurchma­növriert, kann sich ihm die Lesersympa­thie nicht versagen. Kraus beschreibt die Situatione­n ebenso launig wie intelligen­t. Dabei spielt die Geschichte ohne auffällige Brüche auf mehreren Zeitebenen: Mitte der 1990er, mit Reflexione­n auf die Jahre der Beatniks und der NS-Zeit, alles in einen dünnen Mantel der Jetztzeit eingeschla­gen.

Kraus ist ein ausgezeich­neter Beobachter der kleinen Dinge, bringt Details in groteske Zusammenhä­nge und stellt köstliche Vergleiche an, die zudem großes Allgemeinw­issen verraten. Dabei bedient er sich einer abwechslun­gsreichen Sprache, die nicht müde macht und in Bildern erzählt, die den Regisseur und Drehbuchau­tor erkennen lassen.

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