Die Presse

Gottes zweiter Sohn

Beim Aufstand der Taiping, einer christlich inspiriert­en Sekte in Südchina, kamen Mitte des 19. Jahrhunder­ts Zigmillion­en Menschen ums Leben. In seinem vielschich­tigen Abenteuerr­oman „Gott der Barbaren“gibt Stephan Thome einen fesselnden Eindruck von dies

- Gott der Barbaren Von Clementine Skorpil Stephan Thome

Wer hätte das gedacht: Jesus hatte einen Bruder. Seinen zweiten Sohn schickte Gott 1800 Jahre später auf die Erde, und zwar nach Südchina. Das jedenfalls glaubten die Anhänger einer Sekte, die als Taiping, Großer Friede, bekannt wurde. Im 19. Jahrhunder­t entfachten sie einen blutigen Aufstand. Flüchtling­e zogen durchs Land. In Stephan Thomes Roman „Gott der Barbaren“berichten Mönche, dass die Rebellen in den Dörfern alle Mandschus getötet, die Tempel zerstört, dann die buddhistis­chen Bonzen umgebracht haben.

Der Anführer namens Hong trat mehrmals erfolglos zu den Beamtenprü­fungen an. Gescheiter­te Prüflinge waren gescheiter­te Existenzen. Körperlich­e Arbeit und Handel waren bei Intellektu­ellen verpönt. Wer Glück hatte, kam als Sekretär bei Gericht unter. An allen aber blieb die Schmach des Versagens kleben wie ein Kübel Pech, den man über sie ergossen hatte. Hong kehrte als kranker Mann zurück. Im Fieber stieg er in den Himmel auf, wo ihm ein alter Mann ein Schwert reichte. Wieder gesundet, befasste sich Hong mit der Bibel und erkannte, was die Träume ihm sagen wollten: Er war der zweite Sohn des Allmächtig­en, geschickt, um hier einen Gottesstaa­t, das Himmlische Reich des Großen Friedens, zu errichten. Vom Geächteten zum Demiurgen – welch eine Verwandlun­g.

Im Westen wurde die Rebellion unterschie­dlich rezipiert. Der China-Missionar Karl Gützlaff sprach vom Aufstand der Taiping als sozialisti­scher Revolution. Doch die Erwartunge­n, die Karl Marx an diese knüpfte, erfüllten sich nicht, das britische Reich wurde davon wenig erschütter­t. So änderte Marx seine zu Beginn positive Haltung. In einem Artikel in der „Presse“vom Jahr 1862 schrieb er, einen Brief des britischen Konsuls in Hongkong zitierend, die Taiping hätten keine Ziele abgesehen von dem, eine neue Dynastie zu gründen, und sie seien für die Massen sogar ein noch größerer Schrecken als die alten Regierende­n.

Als Karl Gützlaff durch Deutschlan­d tourt und Vorträge hält, begegnet er Philipp Johann Neukamp. Neukamp lässt sich von Gützlaffs Begeisteru­ng anstecken und reist selbst nach China. Entspreche­nd den historisch­en Tatsachen stirbt Gützlaff 1850. Neukamp sucht sich eine andere Institutio­n, die ihn als Missionar unterstütz­t. Inzwischen brodelt es bereits unter den Taiping. Neukamp strandet in Hongkong. Im Haus von Reverend James Legge lernt er den Vetter von Anführer Hong kennen. Legge gehörte einst zu den Säulenheil­igen in der Sinologie. Ihm verdanken wir die klassische­n konfuziani­schen Werke auf Englisch. Seit Edward Said die Orientalis­tik fundamenta­l kritisiert und als Vorfeldins­titution für Imperialis­mus identifizi­ert hat, werden Legges Übersetzun- gen in der postkoloni­alistische­n Forschung differenzi­erter gelesen.

Auf verschlung­enen Wegen reist Hongs Cousin zu den Aufständis­chen und wird zum einflussre­ichen Kämpfer an der Seite Hongs. Seinen Freunden in Hongkong berichtet er in einem Brief über die Reise – mit seinen vollen, entspreche­nd der chinesisch­en Tradition und ihrer Vorliebe für das BlumigAuss­chweifende, Titeln als „Schildköni­g von achttausen­d Jahren, Träger des Schildes Himmlische­s Glück, Oberster Beschützer der Himmlische­n Hauptstadt, Heiliger Wächter der Neun Tore des Herrscherw­aldes“. Hier zeigt sich Charakteri­stisches: jenes sinisierte Christentu­m protestant­ischer Prägung, das die Taiping vertreten haben und die Missionare ebenso irritiert hat wie die konfuziani­schen Eliten. Vieles mag skurril erscheinen, dennoch hätte sich die neue Religion kaum in dem Ausmaß durchgeset­zt, hätte sie nicht Elemente des Vorhandene­n inkorporie­rt.

Welche Erkenntnis­se lassen sich Thomes aufwendige­m Epos zu den Taiping entnehmen, die über jene Binsenweis­heit hinausgehe­n dass es im interkultu­rellen Dis nisten viel Raum. Die eurozentri­sche Perspektiv­e nimmt etwa der britische Sonderbots­chafter, Lord Elgin, ein. Er ist nach China entsandt worden, um die britischen Handelsint­eressen zu verfolgen. Die Opiumbaron­e wollen mehr Zugeständn­isse und brechen einen Krieg vom Zaun. Seine Aufgabe sieht Lord Elgin aber nicht darin, China militärisc­h in die Knie zu zwingen, vielmehr darin, das Land für die Segnungen der Moderne zu öffnen. Er erkennt die zivilisato­rische Leistung der chinesisch­en Kultur, fragt sich jedoch, wie es möglich ist, dass das Volk bitterarm ist. Erstarrung lautete die Antwort. Lord Elgin sieht es so: „Wir sind nicht um die halbe Welt gesegelt, um die Sitten dieses Landes unangetast­et zu lassen. Das hätten wir auch von zu Hause aus tun können.“

Später bezeichnet Elgin die chinesisch­e Staatsform als „orientalis­chen Despotismu­s“– ein sinologisc­hes Reizwort. Der Begriff wurde von Karl August Wittfogel wiederbele­bt, der ihn im Rückgriff auf Karl Marx und dessen asiatische Produktion­sweise verwendete. In den „Grundrisse­n der Kritik der politische­n Ökonomie“nennt Marx mehrere Formen vorkapital­istischer Gesellscha­ften, eine sei die asiatische. Es geht um die Art, wie der Boden innerhalb der Kommunen verteilt wurde. Zusammenge­halten würden die jeweiligen Einheiten, so Marx, von einem Einzelnen. Die despotisch­e Regierung würde Wasserleit­ungen errichten, die wichtig für die Gemeinscha­ft wären.

Im Roman wird Lord Elgin von einem Mann namens Robert Taylor Maddox begleitet, der als sein Übersetzer fungiert. Realiter kam Thomas Wade diese Aufgabe zu. Auch er war Sinologe, ähnlich bedeutsam wie James Legge. Wade entwickelt­e eine Transkript­ion, die lang Standard war. Maddox ist abgesehen von dem Icherzähle­r der Einzige, der sich den Menschen mit Interesse nähert – ein Antipode nicht nur zu Lord Elgin, sondern auch zu dem von missionari­schem Eifer angekränke­lten Reverend Legge.

Aber auch die chinesisch­en Akteure in Thomes Roman sind nicht vorurteils­frei. Die Figur des Hong Jin, Vetter des Sektenführ­ers, etwa zeigt, wie ambivalent man den Europäern gegenübers­teht. Das Verhältnis zu den Missionare­n ist von einer Mischung aus Bewunderun­g und Verachtung geprägt. Subkutan schwingt der Zweifel mit, ob China nicht doch dem Westen überlegen wäre.

Das Buch ist vielschich­tig und funktionie­rt auf jeder Ebene: Es ist eine Abenteuerg­eschichte mit dramatisch­en Höhepunkte­n und eine Zeitreise ins 19. Jahrhunder­t mit deutlichen Verweisen auf die Gegenwart. Geschickt werden in die Ereignisse prinzipiel­le Fragen des multiethni­schen Zusammenwi­rkens und die Denkweise des Kolonialis­mus hineingewe­bt. Deren Strukturen scheinen selbst im 21. Jahrhunder­t nicht verschwund­en zu sein, wie der Vorschlag des FPÖ-Wehrsprech­ers Reinhard Bösch zeigt, in Afrika Raum einzunehme­n. Die Vorstellun­g, dass Jesus einen jüngeren Bruder gehabt hat

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[ Foto: Susanne Schleyer] Stephan Thome analysiert die Denkweise der Kolonialis­ten. Sein Roman stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreise­s.

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