Mythos und Mühe
Der lang gehegte, kaum verhohlene Wunsch, dass die Beschäftigung mit der Nazizeit endlich aufhören möge, hat sich bis heute nicht erfüllt. Hält man sich an drei jüngst erschienene Bücher österreichischer Autoren, könnte allerdings der Eindruck entstehen, dass mit wachsendem Abstand die geschilderten Ereignisse immer mehr mit fiktiven Elementen angereichert werden – oder zugekleistert, je nachdem, wie man zu hybriden Texten steht, deren Verfasser sich die Freiheit nehmen, ihren realen Protagonisten erfundene Gedanken, Äußerungen, sogar Taten zuzuschreiben.
Ursache dieser Eigenmächtigkeit ist der Verlust an unmittelbarer Erfahrung: Es gibt keine oder fast keine Zeitzeugen mehr, wie der unbeholfene, auch missverständliche Begriff für Menschen lautet, die Terror und Verfolgung der NS-Zeit erlebt und erlitten haben, sodass wir uns schon bald mit bürokratischem Material wie Verhör- und Gerichtsprotokollen, bestenfalls noch Fotos, Transkriptionen oder alten Tonaufnahmen begnügen müssen.
Eine solche Ausgangslage haben jedenfalls Niko Hofinger, Bruno Schernhammer und Manfred Wieninger vorgefunden und deshalb ihre jeweiligen Stoffe – die Überlebensgeschichte eines gewitzten Wiener Juden; den Autobahnbau als die behauptete gute Errungenschaft des Hitlerregimes; die Untersuchung eines Verbrechens an jüdischen Sklavenarbeitern im südlichen Burgenland – zu Romanen oder romanhaften Chroniken verarbeitet. Ich halte es jedoch für möglich, dass alle drei sich auch bei günstigerer Quellenlage für die literarische, gegen die historische Darstellungsweise entschieden hätten: aus Freude am Fabulieren, aufgrund ihres Selbstvertrauens und weil die Literatur ihnen mehr gestalterische Freiheit zu bieten schien als eine nüchterne Abhandlung.
Auf Hofinger trifft außerdem zu, dass er mit seinem Sujet ohnehin schon als Historiker beschäftigt war, nachdem er für den Dokumentarfilm „Der Mann, der zweimal starb“des israelischen Regisseurs Yair Lev Recherchen in ganz Europa und auf zwei Kontinenten angestellt hatte. Vermutlich ist nur ein Bruchteil des von ihm zusammengetragenen Materials in Levs Film eingegangen. Auf die Akribie seiner Nachforschungen verweist allein schon die Namensliste am Ende des Buches, die etliche Dutzend Leute umfasst. Sie haben ihm geholfen, die fingierte Biografie dieses Manek Willner richtigzustellen, der in Galizien geboren wurde, als Kind nach Wien kam und als junger Mann ein unbeschwertes Leben führte, ehe er sich, auf der Flucht vor den Nazis, den Namen eines Bekannten ausborgte, den er, geringfügig verändert (von Bechinsky auf Beschinsky), bis ans Ende seiner Tage trug. Der Schwindel, wenn man ihn als solchen bezeichnen will, kam erst infolge eines Erbschaftsstreits in der Familie des wirklichen Bechinsky auf – da waren beide schon lange tot.
Verblüffend ist nicht nur Hofingers Detailwissen, sondern auch der Sprachwitz, mit dem er es in den Roman einfließen lässt. Übertroffen wird diese Fähigkeit noch vom genialen Einfall, Willner alias Beschinsky aus dem Grab heraus (von dem eine Telefonleitung nach Innsbruck-Wilten, in die Wohnung des Verfassers, führt) seine Lebensgeschichte erzählen zu lassen. Durch diese Erzählperspektive macht Hofinger von Anfang an klar, dass es ihm um die subjektive Wahrnehmung eines Menschen geht, den die Leser aufgrund seiner immensen Lebensfreude und pointierten Beobachtungsgabe nicht so schnell vergessen werden.
Befangenheit angesichts des jüdischen Schicksals, dem Willner wegen seines unbekümmerten Auftretens und des Beistands seiner Tiroler Freundin Ilse Pollack entgeht, ist Hofinger fremd. Auch die Nazis werden weder von ihm noch von seinem Protagonisten für voll genommen. Hingegen hat er einen geschärften Sinn für Situationsund Charakterkomik. So, wenn er Willner sagen lässt, dass bei Grenzübertritten in der Regel zwei konträre Stimmungen zu erleben waren: „vergnügte, leutselige, joviale Grenzer beim Verlassen des einen und ein paar Meter weiter missmutige, misstrauische,
Maneks Listen Roman. 224 S., geb., zahlreiche Abb., € 20 (Limbus Verlag, Innsbruck)
Aasplatz mürrische Zöllner bei der Einreise ins andere Land“. Oder wenn er Willners Jugendfreunden Willy Geber und Robert Peiper (die er nebenbei respektlos-liebevoll porträtiert hat) zugesteht, dass sie nach einer Palästina-Reise, 1925, vom Zionismus auf den „Zyonismus“umgeschaltet hätten. „Eine Inspiration für ihre Reise war jene von Felix Salten im Jahr davor gewesen; sein Buch ,Neue Menschen auf alter Erde‘ war nicht nur halb so lustig wie die Mutzenbacherin, sondern auch doppelt so verlogen und schönfärberisch, wie sich jetzt herausstellte.“
Oder wenn er die Atmosphäre in Hall in Tirol, im Haus der Nazi-Schwiegereltern seines Ich-Erzählers, für ebenso „ausgelassen wie am Mittagstisch der Pastorenfamilie in Michael Hanekes Film ,Das weiße Band‘“hält. Oder wenn er Willner sein eigenes Begräbnis schildern lässt, bei dem dieser, nein: Beschinsky als ehemaliger Präsident der Innsbrucker Kultusgemeinde gewürdigt wird: „Gerade spricht Paul Reitzer. Wenn ich in den letzten zwanzig Jahren einen Freund in Innsbruck gehabt habe, dann sicher ihn. Soeben erzählt er mein halbes Leben, so wie ich es ihm erzählt habe. Geboren 1902 in Wien, Gymnasium in Wien, Mathematikstudium, Professor im Gymnasium Albertgasse. Er ist erschüttert, und ich bin es, glaube ich, auch. Da steht mein bester Freund an meinem offenen Grab, erzählt meinen Lebenslauf, und kein einziges Wort davon ist wahr. Ich habe es nie übers Herz gebracht, ihm den anderen Teil meiner Geschichte zu erzählen.“
Es ist nicht nur die Art von Humor, die „Maneks Listen“von „Aasplatz“unterscheidet. Verschieden sind die beiden Romane im Segment, das sie von der österreichischen Gesellschaft abbilden. Das erweist sich an den Frauen, die hier wie da die Handlung bestimmen: Bei Hofinger zögert Willners nicht jüdische Freundin keinen Moment lang, für ihn ihr Leben zu riskieren, während Wieningers Anna Koinegg ihren früheren Geliebten Theodor Amlinger als Judenmörder erst dann anzeigt, als er den Kontakt zwischen ihr und der gemeinsamen Tochter unterbindet. Jahre später beginnt der Kriminalpolizist Hans Landauer gegen Amlinger und andere Soldaten der WaffenSS zu ermitteln, die kurz vor Kriegsende in Jennersdorf hundert oder mehr ungarische Juden erschossen und erschlagen haben.
Landauer ist dabei, von einem Staatsanwalt des Landgerichts Mannheim und von Simon Wiesenthal abgesehen auf sich allein
Qläufern aufzufassen. So erscheint der Roman als eine etwas selbstgerechte, im Erzählerkommentar zynische Abrechnung mit der Zweiten Republik, die sich als unveränderbar, ja als nicht einmal veränderungswürdig darstellt. Dass sie diesem Bild immer mehr gleicht, hat auch solche Literatur zu verantworten.
„Aasplatz“setzt sich aus zwei Elementen zusammen: dem dokumentarischen Teil, bestehend aus Landauers Vernehmungsprotokollen, die Wieninger im Österreichischen Staatsarchiv eingesehen hat, und dem fiktiven, in dem er sich vorstellt, was der ehemalige Spanienkämpfer und die anderen Personen zwischen den Einvernahmen alles gesagt, gedacht und getan haben. Dabei unterlaufen ihm nicht nur einige Irrtümer hinsichtlich des Lebens und Bildungsstandes seines Protagonisten, sondern auch ein kurioses Missverständnis: Er hält die nach jeder Befragung angefertigten Protokolle Landauers für im Wortlaut wiedergegebene Aussagen der Zeugen, denen er deshalb Floskeln und Formulierungen in den Mund legt, die sie unmöglich gesagt haben können. Leider hat er auch die üble Angewohnheit übernommen, Sätze in der direkten Rede mit aufgedonnerten Inquit-Formeln zu überfrachten.
Und was ist von den Vergleichen zu halten, mit denen Wieninger die Leser unterhält? Landauer zum Beispiel nennt der Erzähler „gesund wie eine Weißblechdose“, Wiesenthal erscheint einem Jennersdorfer Gastwirt als „so unberechenbar wie eine ungesicherte Handgranate im Fäustchen eines Wickelkindes“, der Geschmack von burgenländischem Schnaps wird als „herb-süßlich, eigentlich widerlich, wie eine Bauchspeicheldrüse im Laborversuch“beschrieben, und beim Autofahren kracht die Kupplung „wie eine aufgebackene Kaisersemmel“. Die derbe, gezwungen originelle Sprache verdrießt einen mehr als die Tatsache, dass es dem Autor in diesem Fall nicht um die Ermordeten gegangen ist, sondern um die Mörder – und um die Ohnmacht des gewissenhaften, charakterlich gefestigten, politisch hellsichtigen Inspektors Landauer, diese belangen zu können. Es kam, wie Wieninger im „Epilog“grimmig anmerkt, in keinem einzigen Fall zur Verfahrenseröffnung. Die Beschuldigten, allesamt Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland, starben als freie Männer.
Im Gegensatz zu Wieninger geht Bruno Schernhammer sein Thema, Mythos und Mühe des Autobahnbaus, beinahe zurückhaltend an, zugleich aber mit großer Sympathie für die Betroffenen, die armen Anrainer und die geschundenen Arbeiter. Erstaunlich ist der Anspruch, die recherchierten Fakten mit der eigenen Erfahrung – Schernhammer ist unmittelbar neben einer Autobahnbrücke in der oberösterreichischen Gemeinde Vorchdorf aufgewachsen – zu verbinden, und zwar über eine Zeitspanne von vierzig Jahren, von 1932 bis 1971. Er bricht die Chronologie auf, erzählt also sprunghaft, über drei Generationen hinweg, wechselt von der dritten in die erste Person und verliert sich doch nicht in Reminiszenzen an die eigene Kindheit und Jugend. Diskussionswürdig sind die Passagen, in denen er die Leiden der polnischen Zwangsarbeiter, dann der sowjetischen Kriegsgefangenen beschreibt; im letztgenannten Fall in strenger Außensicht, was noch unerträglicher ist als die an sich schon fragwürdige Detailtreue. Hier habe ich an Fred Wander denken müssen, seine klangvolle Stimme vernommen, mit der er einmal den Hunger und das Verhungernlassen als den größten Menschheitsskandal bezeichnet hat.
Über die Literarisierung und Sozialisierung eines Stücks Wirtschaftsgeschichte hinaus ist Schernhammer in seinem Debütroman vor allem eines gelungen: darzustellen, wie töricht die Trennung zwischen denen ist, die einander doch Brüder, Geschwister sein sollten, weil sie, ob Einheimische oder Fremde, viel mehr miteinander verbindet als mit denen, die sie aufeinander hetzen. Insofern handelt diese „im Schatten der Autobahn“angesiedelte kollektive Geschichte von unserer Gegenwart, nicht minder auch von morgen.