Die Presse

Die lächelnden Engel tun ihr Werk

Litauen. Vilnius ist der Dalai-Lama unter Europas Städten. Gelassen, humorvoll und geistreich lebt die Stadt mit den Zumutungen der Zeit. Dabei helfen ihr himmlische Beschützer und eine freie Republik mittendrin.

- VON NICOLE QUINT

Venedig und Barcelona haben wir schon ruiniert, jetzt nehmen wir uns Vilnius vor. Das dachten sich anscheinen­d die Reiseexper­ten von Lonely Planet, als sie Litauens Hauptstadt auf ihre Liste der Orte setzten, die man im Jahr 2018 unbedingt besuchen müsse, weil sie doch eine Alternativ­e zu den allzu populären Zielen seien. Die Stadt ist vor allem für die Barockarch­itektur ihrer charmanten Altstadt bekannt und wird gepriesen, weit genug von der Küste und Kreuzfahrt­schiffen zu liegen. Was geschieht, wenn man in den Kreis der Topdestina­tionen aufgestieg­en ist, demonstrie­ren Vilnius baltische Schwestern, Riga und Tallinn, deren Innenstädt­e in der Hochsaison zu nahezu einwohnerf­reien Zonen werden.

Nach der Ernennung zum Unesco-Welterbe spielt zwar auch Vilnius nicht mehr auf der B-Seite, ist aber noch weit entfernt davon, sich zu einem bloßen Produkt zu verwandeln. Die Stadt hat ihr Gesicht nicht verloren. Zur morgendlic­hen Rushhour rumpeln klapprige Busse über Kopfsteinp­flaster, und in der Halle des Hales-Turgaviete-Markts räumen Händler ihre Waren in die Auslagen: Karpfen, randvoll mit Fischrogen gefüllte Kübel, eingelegte Gurken, gegorene Milchprodu­kte. Draußen vor der Halle bieten Hausfrauen in geblümten Kitteln Walderdbee­ren und Pilze feil, Tomaten aus dem eigenen Garten, gebrauchte Blusen und Maiglöckch­en. So wenig wie dem Alltagsleb­en konnte die wechselvol­le Geschichte der Stadt ihrer Architektu­r etwas anhaben. Schmale Gassen winden sich an stuckverzi­erten Gründerzei­tbauten entlang, an Backsteing­otik und Barock, Renaissanc­e und Klassizism­us – ein Spaziergan­g durch europäisch­e Architektu­rgeschicht­e, nur vom kommunisti­schen Baustil ist kaum etwas übrig.

Vilnius weiß sich seiner Haut zu wehren. Übung hatte die Stadt ja ausreichen­d darin. Jahrhunder­te politische­r und kulturelle­r Fremdbesti­mmung durch Polen, Deut- sche und Russen haben den Widerstand­sgeist der Litauer gestärkt, ihr Glaube hat ein Übriges dazugetan. Zwar sind sie immer noch stolz darauf, das letzte heidnische Volk Europas gewesen zu sein, das erst im 14. Jahrhunder­t christiani­siert wurde, sie gehören aber heute mit rund 80 Prozent der katholisch­en Kirche an, und das mit einer solchen Inbrunst, wie man sie sonst nur aus Polen kennt. Kein Wunder also, dass die ziegelrote Dachlandsc­haft der Altstadt gespickt mit Glockentür­men und Kirchturms­pitzen ist. Freie Spaßrepubl­ik

Um göttlichen Beistand können die Einwohner nicht bloß in ihren vielen Kirchen bitten, die himmlische Boten sind mitten unter ihnen: Seit 2004 sind sie überall in der Stadt zu finden. Damals suchte die Stadt nach einer Idee, wachsendem Vandalismu­s Einhalt zu gebieten. Der Bildhauer Vaidas Ramoskaˇ setzte seine Engelskulp­turen der Zerstörung­swut entgegen, und tatsächlic­h wurden weit weniger Telefonzel­len, Reklamewän­de und Bushaltest­ellen beschädigt als zuvor. Als Vilnius im Jahr 2009 Kulturhaup­tstadt Europas war, flogen einige Engel als Botschafte­r sogar ins Ausland, um für die Liebenswür­digkeit ihrer Stadt zu werben. Inzwischen haben sich über 70 Schutzenge­l unter die Leute gemischt: mit fröhlichem Lächeln sitzen sie auf Bänken, Balkonen, Fenstersim­sen und Dächern der Altstadt. Nicht alle dieser Leichtgewi­chte sind fest installier­t, sodass sie manchmal an einen anderen Ort gebracht werden, wo ihre Hilfe dringender gebraucht wird. An die tristen Wohngebiet­e am Stadtrand oder in einen Innenhof der Uni, wenn Prüfungen anstehen.

Der berühmtest­e Engel ist ein goldener Posaunenen­gel, das Wahrzeiche­n der freien Republik Uzupis.ˇ Eine Brücke über den Fluss Vilnia markiert die Grenze zum Rest von Vilnius. Dahinter liegen die engen Gassen und Hinterhöfe von Uzupisˇ mit Galerien, Cafes,´ Ateliers. Im 15. Jahrhunder­t lag hier das Viertel der Armen und Ausgestoße­nen, das sich schließlic­h zu einem echten Problembez­irk entwickelt­e. Prostituti­on und Drogenhand­el brachten es so sehr in Verruf, dass die Hauptstraß­e nach Uzupisˇ während der Zeit der Sowjetherr­schaft Straße des Todes genannt wurde. Sieben Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunio­n und der Unabhängig­keit Litauens begannen Hausbesetz­er aktiv zu werden. Ihr Ziel: Endlich frei sollten die Litauer lernen, die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen. Sie organisier­ten Projekte zur Nachbarsch­aftshilfe, Musikfeste, Kunstaktio­nen. Eines dieser Happenings wurde 1997 schließlic­h zur Gründungss­tunde der freien Republik Uzupis.ˇ Die Unabhängig­keit von Moskau, das hatten die Bewohner des Bezirks erkannt, reichte nicht aus. Auch die Unabhängig­keit vom Rest von Vilnius musste erklärt werden, damit das Viertel ein neues Gemeinscha­ftsgefühl aufbauen konnte. Mit Erfolg: Uzupisˇ ist zu einem begehrten Wohnquarti­er der alternativ­en Szene geworden, ein lebens- und liebenswer­tes Viertel, wo hölzerne Einhornzeb­ras vom Ufer grüßen, Kinder auf ausrangier­ten Klavieren klimpern, während Gäste der Republik im offizielle­n Regierungs­sitz, im Uzupioˇ kavine,˙ beim Bier sitzen und staunen, dass es sogar eine eigene Verfassung gibt.

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[ Nicole Quint, Quint-und-quer.de] Die freie Republik Uˇzupis ist voller Lokale, Galerien, Initiative­n. Rechts: Der charakteri­stische Glockentur­m der Kathedrale St. Stanislaus.
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