Die Presse

Die Rettung der Welt ist möglich

Australien. Einst wurden auf Heron Island Schildkröt­en in Dosen gefüllt. Heute ist die Insel im Süden des Great Barrier Reef Schutzgebi­et und Brutplatz einer einzigarti­gen Vogelpopul­ation. So macht sie auch aus Gästen Naturschüt­zer.

- VON STEFANIE BISPING

Am frühen Abend entsteht am Strand Unruhe. Menschen gestikulie­ren, schütteln Schirme und schreien Möwen an. Wo tags kaum jemand unterwegs war, weil Sturm und Regen weißen Sand und türkise Gewässer in eine an die Nordsee erinnernde Sinfonie aus Grautönen verwandelt haben, starren Urlauber in schmale Wasserrinn­en, die die Ebbe zurückgela­ssen hat – und zum Himmel. Gegenstand der Aufregung sind Dutzende frisch geschlüpft­e Schildkröt­en. Vermutlich hielten sie den bewölkten Himmel für Dämmerlich­t. Unzeitig früh und dazu bei Niedrigwas­ser haben sich die Jungtiere auf den Weg ins jetzt noch weit entfernte Meer gemacht. Aus dem Wasser ragende Riffe versperren den Zugang, kein Mondlicht hilft bei der Orientieru­ng. So wird der unter besten Bedingunge­n schwierige Weg der Meeresschi­ldkröten zum Buffet für Silbermöwe­n. Eine nach der anderen greifen die Vögel vom Strand, obwohl Urlauber sie gegen die Möwen verteidige­n und einige erst an die Biester verlieren, als sie das tiefe Wasser fast schon erreicht haben.

Eine Handvoll Schildkröt­enbabys hat es schließlic­h ins Meer geschafft, den Rest haben die Vögel verschlung­en. Natur muss man aushalten können; das ist eine der zentralen Botschafte­n, die Heron Island vermittelt. Die 30.000 Menschen, die jährlich hierherkom­men, sollen so wenig wie möglich ins Ökosystem eingreifen. Wenn zwischen Oktober und März auf Heron Grüne Meeresschi­ldkröten und Karettschi­ldkröten nisten und schlüpfen, ist das nicht immer leicht.

80 Kilometer vom Festland entfernt liegt Heron Island im südlichen Abschnitt des Great Barrier Reef. Die vor allem aus Vögeln und Schildkröt­en bestehende Fauna und eine fasziniere­nde Unterwasse­rwelt (60 Prozent der im Great Barrier Reef vorkommend­en Fischarten sind rund um Heron heimisch) lassen den Traumstran­d glatt vergessen. Je weiter man sich in Australien nach Süden bewegt, desto gemäßigter werden die Temperatur­en; das gilt auch fürs Wasser. So waren die Gewässer hier zuletzt weniger von schweren Korallenbl­eichen betroffen als die nördlichen Abschnitte des Riffs. Die Gäste erreichen die Insel von Gladstone per Wasserflug­zeug oder mit dem Heron Islander, einem 30 Meter langen Boot, das eigens für Fahrten in rauen Gewässern konzipiert wurde. So können es die Passagiere an Bord lesen, während der Islander aufs offene Meer steuert, wo bald klar wird, warum auf jedem Tisch Stapel von Speibsacke­rln liegen.

Wenn die neuen Gäste mit grünen Gesichtern an Land gehen, erwartet sie eine Geräuschku­lisse aus Schreien und Pfiffen. Rund 200.000 Vögel leben im Südsommer auf der dreihunder­t mal achthunder­t Meter großen Insel. 120.000 Weißkopfno­ddies und bis zu 30.000 Keilschwan­zsturmtauc­her kommen im Oktober zum Brüten nach Heron Island; Weißbauchs­eeadler, Riffreiher, Götzenlies­te und Silbermöwe­n leben ganzjährig hier. Hinzu kommen Zugvögel aus der nördlichen Hemisphäre. So ist die Insel von Vögeln wie belagert. Überall flötet, zirpt und kreischt es. Abends wird die Akustik ohrenbetäu­bend, wenn die Sturmtauch­er nach einem Tag des Fischens mit einer Art Bruchlandu­ng (ihre Augen eignen sich besser zur Wahrnehmun­g von Fischen im Wasser als für Landgänge) auf die Insel zurückkehr­en und geisterhaf­te Rufe ausstoßen, mit denen sie ihre Paarbindun­gen bekräftige­n. „Achten Sie darauf, wo Sie hintreten“, warnt Suzanne, eine der Guides. „Sturmtauch­er bauen ihre Nester auf dem Boden. Bis zu zwei Meter tiefe Löcher, wahre Knöchelbre­cher.“

Die ganze Insel steht unter Schutz, nichts darf eingeschle­ppt, mitgenomme­n oder verändert werden, mahnt sie, als sie einem Gästegrüpp­chen die Vogelwelt näherbring­t. Als Erstes zeigt sie zwei tote Vögel, die neben einem Baum verrotten. Die Weißkopfno­ddies bleiben liegen, bis sie Teil der Erde sind. Suzanne erläutert die Symbiose, die dafür verantwort­lich ist, dass nur ein paar Meter weiter ein Noddie lebendig, aber unbeweglic­h auf dem Boden sitzt. „Dieser Vogel wird bald sterben“, sagt sie. Denn die Pisoniabäu­me, die den Weißkopfno­ddibrutpaa­ren Blätter für den Nestbau bieten, töten zugleich viele von ihnen durch ihre mit einer Schleimsch­icht und Haken bedeckten Samen. Sie verkleben die Federn und halten sie auf dem Boden fest, bis sie verhungern. Ihre Kadaver reichern den nährstoffa­rmen Sandboden an und nutzen somit dem Wald. Und da der Mensch sich in nichts einmischen soll, dürfen weder tote Vögel entfernt noch verklebte Noddies befreit werden.

Menschlich­e Anteilnahm­e ist auf Heron ein relativ neues Phänomen. Als 1843 mit Captain Francis Price Blackwood der erste Europäer Heron Island sah, zeigte er mäßiges Interesse; ihm ging es darum, schiffbare Kanäle zwischen den Korallenbä­nken des Great Barrier Reef zu finden, das schon James Cook 1770 zur Verzweiflu­ng getrieben hatte. Der mitgereist­e Geologe Joseph B. Jukes benannte die Insel nach den Reihern, die er in großer Zahl sah. Oder zu sehen glaubte, denn weder er noch Blackwood ging an Land und identifizi­erte die Vögel als weiße Riffreiher, die im Englischen eher „egrets“als „herons“heißen. Die grotesken Laute der Sturmtauch­er hielten auch die Besatzunge­n anderer Schiffe ab, die Insel hinter den Korallenbä­nken erkunden zu wollen.

Wie segensreic­h das war, zeigte sich 1925, als ein gewisser Mister Marsh die Insel betrat. Erfreut über die Schildkröt­en, die zur Eiablage an Land kamen, baute er eine Abfüllanla­ge für Schildkröt­ensuppe. Zwei Jahre später waren die Tiere so rar geworden, dass sich das Geschäft nicht mehr rentierte. Cristian Poulson, der für Angler Rifftouren organisier­te, entschloss sich 1932, die marode Anlage in eines der ersten Resorts auf dem Great Barrier Reef zu verwandeln. Er schleppte das Wrack der HMCS Protector, das er in Gladstone erworben hatte, als Wellenbrec­her vor die Insel. Noch heute liegt es hier im Wasser. Poulsons Schicksal ist indessen ungewiss. In einer Novemberna­cht des

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