Die Presse

Schicksals­wochen einer Kanzlerin

Drei Szenarien. Wie geht es nach der Bayern-Wahl und vor der Hessen-Wahl weiter mit der Koalition in Berlin und Angela Merkel? Die Regierung könnte weiterwurs­teln, platzen – oder die Kanzlerin geht.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R UND THOMAS VIEREGGE

Tag eins nach dem weiß-blauen Erdbeben: Ministerpr­äsident Markus Söder und Parteichef Seehofer stützen sich nach dem Absturz ihrer CSU auf 37,2 Prozent gegenseiti­g. Der Burgfriede­n hält einstweile­n. Er tut das auch in Berlin, im Willy-Brandt-Haus. Die SPD ist zwar im freien Fall, in Bayern halbierte sie sich auf 9,7 Prozent. Im Bund liegt sie in manchen Umfragen sogar nur auf Platz vier. Ein Desaster. Eine interne Revolte gegen die ungeliebte Große Koalition in Berlin oder die SPD-Parteiführ­ung gibt es am Montag aber nicht.

Die Losung lautet: Reihen schließen, keine internen Personalde­batten. Und zwar bis zum 28. Oktober. Am übernächst­en Sonntag wählt Hessen, und dann steht auch für CDUKanzler­in Angela Merkel viel auf dem Spiel – mehr als in Bayern. In Hessen regiert Volker Bouffier, ein Erzkonserv­ativer, der sich zum Merkeliane­r wandelte, der sich immer wieder über das Gehabe der CSU empört – ein Mann also, der die Dinge ein wenig so sieht wie die Kanzlerin. Umfragen sagen Hessens CDU Platz eins voraus, aber unter schweren Verlusten von bis zu zehn Prozentpun­kten.

Bouffier muss um seine schwarz-grüne Koalition zittern. Und Merkel zittert mit. Sie will sich nach Hamburg retten. Dort findet ab 6. Dezember der Parteitag statt, der sie als CDU-Chefin bestätigt soll. Neulich betonte sie abermals ihr Credo, dass Parteivors­itz und Kanzlersch­aft zusammenge­hören. Wie steht es um sie und die Koalition in Berlin?

1 Regierungs­chefin Merkel geht – und/oder die Koalition in Berlin platzt

Die Abwahl ihres Vertrauten Volker Kauder war ein Schuss vor den Bug. Merkel sah die Revolte gegen ihren Fraktionsc­hef jedoch genauso wenig kommen wie die Empörung über den faulen Kompromiss im Fall des Verfassung­sschutzprä­sidenten Hans-Georg Maaßen. Sie entschuldi­gte sich in der Causa. Öffentlich. Das tut sie für gewöhnlich nicht. Manche sahen darin ein Zeichen, dass ihre Macht erodiert. Geht die Hessen-Wahl verloren, könnte es eng werden.

Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble plaudert in Interviews schon darüber, dass Merkels Position geschwächt sei. Ihre Wiederwahl als Parteichef­in bezeichnet er nur als „wahrschein­lich“. Wagt sich da ein potenziell­er Kompromiss­kandidat aus der Deckung? In der sonst so eisern disziplini­erten CDU? Nach dem Votum gegen Kauder scheint nichts mehr undenkbar.

Ein Ende Merkels könnte die SPD für den Absprung aus der ungeliebte­n Großen Koalition nutzen, in die sie sich wegen des Unbehagens gegenüber der CSU ohnehin nur mit großem Widerwille­n geschleppt hat. Der Parteinach­wuchs und Teile des linken Flügels wollen lieber heute als morgen aus dieser kleinen GroKo ausbrechen. Nach der Hessen-Wahl könnte die Devise lauten: Flucht nach vorn und nichts wie raus – selbst für den Fall einer krachenden Niederlage bei Neuwahlen.

Das Scheitern von Schwarz-Rot müsste übrigens nicht zwingend Neuwahlen auslösen. CDU-Vize Thomas Strobl dachte laut über einen neuen Anlauf für Jamaika nach, eine Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP. Hinter den Kulissen führen Grüne und Liberale Gespräche in diese Richtung. Wahrschein­lich ist das Szenario aber nicht.

2 Die Koalition schleppt sich weiter – mit oder ohne Seehofer

Die Große Koalition war schon am Wahltag im Vorjahr keine mehr. Doch seither schrumpfte­n Union und SPD in den Umfragen einmal auf etwa 43 Prozent – Tendenz steil nach unten. In der bürgerlich­en Mitte wildern die Grünen, am rechten Flügel knabbert die AfD. Das Umfragefia­sko hält die GroKo aber auch zusammen. Niemand will derzeit Neuwahlen, schon gar nicht die glücklos agierende SPD-Chefin, Andrea Nahles.

Also könnte sich Schwarz-Rot weiterschl­eppen, mit oder ohne Horst Seehofer als CSU-Chef – und begleitet von koalitions­internen Mahnungen an die CSU, sich im Ton zu mäßigen. Vielleicht reden Union und SPD auch wieder von „Neustart“, so wie im Koalitions­vertrag von „Aufbruch“, „Dynamik“und „Zusammenha­lt“zu lesen war. Spätestens zur Halbzeit der Legislatur­periode, im September 2019, kommt Schwarz-Rot dann aber auf den Prüfstand. So sieht es eine Klausel vor, die von den Sozialdemo­kraten in den Koalitions­vertrag reklamiert wurde.

3 Merkel vollzieht eine geordnete Machtüberg­abe – 2019 oder spätestens 2020

Dass Angela Merkel trotz preußische­r Disziplin bis zum Ende der Legislatur­periode 2021 als Regierungs­chefin durchhält, mag sich selbst in der Union kaum einer vorstellen. Zu abschrecke­nd sind vielen die letzten Jahre der 16-jährigen Ära Helmut Kohls in Erinnerung, die 1998 in einer Wahlschlap­pe mündeten. Merkel hat im Vorjahr lang mit ihrer Wiederkand­idatur gerungen und sich letztlich vor allem aus außenpolit­ischen Gründen doch dafür entschiede­n.

Die 64-Jährige, im heurigen November seit 13 Jahren im Amt, will sich die Stunde ihres Abgangs vorbehalte­n und eine geordnete Machtüberg­abe vollziehen, damit sich ihr Nachfolger bzw. ihre Nachfolger­in einarbeite­n und rechtzeiti­g vor der nächsten Bundestags­wahl profiliere­n kann. Aus Merkels Umgebung hieß es, als Zeitpunkt schwebe ihr das Jahr 2020 vor. Doch er könnte auch schneller kommen, irgendwann im nächsten Jahr, vielleicht nach den Europawahl­en Ende Mai, zu ihrem 65. Geburtstag – idealerwei­se jedoch, wenn niemand damit rechnet.

Mehrere ostdeutsch­e CDU-Chefs drängen auf ihren Rückzug vor den Landtagswa­hlen in Brandenbur­g, Sachsen und Thüringen im Herbst 2019. Sie befürchten eine Niederlage gegen die AfD. Die Parole „Merkel muss weg“stößt ausgerechn­et in Ostdeutsch­land auf ein großes Echo. Ein Abgang Merkels könnte, so das Kalkül, den Unmut mildern.

 ?? [ Reuters ] ?? Angela Merkels Politik der ruhigen Hand verkehrt sich in ihr Gegenteil. Ihre Koalition kommt nicht aus der Krise, und auch sie selbst gerät zunehmend unter Druck der eigenen Partei.
[ Reuters ] Angela Merkels Politik der ruhigen Hand verkehrt sich in ihr Gegenteil. Ihre Koalition kommt nicht aus der Krise, und auch sie selbst gerät zunehmend unter Druck der eigenen Partei.

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