Schicksalswochen einer Kanzlerin
Drei Szenarien. Wie geht es nach der Bayern-Wahl und vor der Hessen-Wahl weiter mit der Koalition in Berlin und Angela Merkel? Die Regierung könnte weiterwursteln, platzen – oder die Kanzlerin geht.
Tag eins nach dem weiß-blauen Erdbeben: Ministerpräsident Markus Söder und Parteichef Seehofer stützen sich nach dem Absturz ihrer CSU auf 37,2 Prozent gegenseitig. Der Burgfrieden hält einstweilen. Er tut das auch in Berlin, im Willy-Brandt-Haus. Die SPD ist zwar im freien Fall, in Bayern halbierte sie sich auf 9,7 Prozent. Im Bund liegt sie in manchen Umfragen sogar nur auf Platz vier. Ein Desaster. Eine interne Revolte gegen die ungeliebte Große Koalition in Berlin oder die SPD-Parteiführung gibt es am Montag aber nicht.
Die Losung lautet: Reihen schließen, keine internen Personaldebatten. Und zwar bis zum 28. Oktober. Am übernächsten Sonntag wählt Hessen, und dann steht auch für CDUKanzlerin Angela Merkel viel auf dem Spiel – mehr als in Bayern. In Hessen regiert Volker Bouffier, ein Erzkonservativer, der sich zum Merkelianer wandelte, der sich immer wieder über das Gehabe der CSU empört – ein Mann also, der die Dinge ein wenig so sieht wie die Kanzlerin. Umfragen sagen Hessens CDU Platz eins voraus, aber unter schweren Verlusten von bis zu zehn Prozentpunkten.
Bouffier muss um seine schwarz-grüne Koalition zittern. Und Merkel zittert mit. Sie will sich nach Hamburg retten. Dort findet ab 6. Dezember der Parteitag statt, der sie als CDU-Chefin bestätigt soll. Neulich betonte sie abermals ihr Credo, dass Parteivorsitz und Kanzlerschaft zusammengehören. Wie steht es um sie und die Koalition in Berlin?
1 Regierungschefin Merkel geht – und/oder die Koalition in Berlin platzt
Die Abwahl ihres Vertrauten Volker Kauder war ein Schuss vor den Bug. Merkel sah die Revolte gegen ihren Fraktionschef jedoch genauso wenig kommen wie die Empörung über den faulen Kompromiss im Fall des Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen. Sie entschuldigte sich in der Causa. Öffentlich. Das tut sie für gewöhnlich nicht. Manche sahen darin ein Zeichen, dass ihre Macht erodiert. Geht die Hessen-Wahl verloren, könnte es eng werden.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble plaudert in Interviews schon darüber, dass Merkels Position geschwächt sei. Ihre Wiederwahl als Parteichefin bezeichnet er nur als „wahrscheinlich“. Wagt sich da ein potenzieller Kompromisskandidat aus der Deckung? In der sonst so eisern disziplinierten CDU? Nach dem Votum gegen Kauder scheint nichts mehr undenkbar.
Ein Ende Merkels könnte die SPD für den Absprung aus der ungeliebten Großen Koalition nutzen, in die sie sich wegen des Unbehagens gegenüber der CSU ohnehin nur mit großem Widerwillen geschleppt hat. Der Parteinachwuchs und Teile des linken Flügels wollen lieber heute als morgen aus dieser kleinen GroKo ausbrechen. Nach der Hessen-Wahl könnte die Devise lauten: Flucht nach vorn und nichts wie raus – selbst für den Fall einer krachenden Niederlage bei Neuwahlen.
Das Scheitern von Schwarz-Rot müsste übrigens nicht zwingend Neuwahlen auslösen. CDU-Vize Thomas Strobl dachte laut über einen neuen Anlauf für Jamaika nach, eine Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP. Hinter den Kulissen führen Grüne und Liberale Gespräche in diese Richtung. Wahrscheinlich ist das Szenario aber nicht.
2 Die Koalition schleppt sich weiter – mit oder ohne Seehofer
Die Große Koalition war schon am Wahltag im Vorjahr keine mehr. Doch seither schrumpften Union und SPD in den Umfragen einmal auf etwa 43 Prozent – Tendenz steil nach unten. In der bürgerlichen Mitte wildern die Grünen, am rechten Flügel knabbert die AfD. Das Umfragefiasko hält die GroKo aber auch zusammen. Niemand will derzeit Neuwahlen, schon gar nicht die glücklos agierende SPD-Chefin, Andrea Nahles.
Also könnte sich Schwarz-Rot weiterschleppen, mit oder ohne Horst Seehofer als CSU-Chef – und begleitet von koalitionsinternen Mahnungen an die CSU, sich im Ton zu mäßigen. Vielleicht reden Union und SPD auch wieder von „Neustart“, so wie im Koalitionsvertrag von „Aufbruch“, „Dynamik“und „Zusammenhalt“zu lesen war. Spätestens zur Halbzeit der Legislaturperiode, im September 2019, kommt Schwarz-Rot dann aber auf den Prüfstand. So sieht es eine Klausel vor, die von den Sozialdemokraten in den Koalitionsvertrag reklamiert wurde.
3 Merkel vollzieht eine geordnete Machtübergabe – 2019 oder spätestens 2020
Dass Angela Merkel trotz preußischer Disziplin bis zum Ende der Legislaturperiode 2021 als Regierungschefin durchhält, mag sich selbst in der Union kaum einer vorstellen. Zu abschreckend sind vielen die letzten Jahre der 16-jährigen Ära Helmut Kohls in Erinnerung, die 1998 in einer Wahlschlappe mündeten. Merkel hat im Vorjahr lang mit ihrer Wiederkandidatur gerungen und sich letztlich vor allem aus außenpolitischen Gründen doch dafür entschieden.
Die 64-Jährige, im heurigen November seit 13 Jahren im Amt, will sich die Stunde ihres Abgangs vorbehalten und eine geordnete Machtübergabe vollziehen, damit sich ihr Nachfolger bzw. ihre Nachfolgerin einarbeiten und rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl profilieren kann. Aus Merkels Umgebung hieß es, als Zeitpunkt schwebe ihr das Jahr 2020 vor. Doch er könnte auch schneller kommen, irgendwann im nächsten Jahr, vielleicht nach den Europawahlen Ende Mai, zu ihrem 65. Geburtstag – idealerweise jedoch, wenn niemand damit rechnet.
Mehrere ostdeutsche CDU-Chefs drängen auf ihren Rückzug vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im Herbst 2019. Sie befürchten eine Niederlage gegen die AfD. Die Parole „Merkel muss weg“stößt ausgerechnet in Ostdeutschland auf ein großes Echo. Ein Abgang Merkels könnte, so das Kalkül, den Unmut mildern.