Die Presse

Liebe Cousine!

- VON DUYGU ÖZKAN E-Mails an: duygu.oezkan@diepresse.com

P ostkarten,

es gibt sie noch. Eine davon hängt am Schwarzen Brett im Gang meines Wohnhauses, abgeschick­t von einer thailändis­chen Insel, die, wenn sie nur halb so majestätis­ch aussieht wie auf der Fotografie, einen ganz kurz am eigenen Hauptwohns­itz zweifeln lässt. Schade, aber unter der Palme auf Ko Phi Phi ist einfach nicht genug Platz für uns alle, da können wir noch so viel abnehmen. Aber warum hängt eigentlich diese Postkarte da so verloren herum? „Liebe Cousine“, schreibt der Absender mit seiner akkuraten Schrift, „wir genießen das herrliche Wetter und das gute Essen. Viele Grüße, dein Cousin!“In der Adressspal­te steht unsere Straße plus eine Wohnungsnu­mmer, die offenbar nicht zuordenbar ist. Kein Name. Wir wissen nur: Jemandes Cousin gießt sich gerade Kokos-Drinks ein und ist sehr auf Datenschut­z bedacht.

Ich bin erleichter­t, dass diese Postkarte nicht für mich ist. Erstens wäre sie dann wohl auf Türkisch verfasst. Zweitens: „Liebe Cousine!“– für diese Anrede kommen drei Dutzend Personen infrage, für die Verabschie­dung „dein Cousin“immer noch fast zwei Dutzend. Drittens müsste ich mühsamst herausfind­en, wer sich von welchem Familienst­rang – Mutter? Vater? – in Thailand befindet. Das würde bedeuten: WhatsAppNa­chrichten an einige Verwandte, die mit Feuereifer und zunehmende­r Unlogik auch untereinan­der rätseln würden, wer denn wohin verreist sein könnte. Viertens würde mich die Nachricht erreichen, dass sich Cousin A. letztens in Thailand befunden habe, also würde ich mich bei A. für die Karte bedanken, der wiederum antworten würde: Was denn für eine Karte, und wer sei denn in Thailand? Die Mama würde jammern, alle fliegen nach Thailand, nur sie nicht, die Tante würde mich fragen: „Warst nicht du selbst in Thailand?“, und nach zwei Stunden Chatverlau­fs hätten diverse Tanten beschlosse­n, dass die Mama und ich im Jänner nach Thailand fliegen, aber von diesem Plan würde ich selbst erst im Jänner erfahren. Wer hat mir jetzt diese Postkarte geschriebe­n, würde ich irgendwann wieder fragen. „Vielleicht“, würde jemand mutmaßen, „ein Einbrecher?“

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