Die Presse

Wie Juden aus Vilnius ausgeblend­et werden

- 1160 Wien Wien

Kolumne in einer Sache genau den Punkt: Die jahrelange reflexhaft­e Ablehnung der teilweise sehr berechtigt­en Kritik Jörg Haiders ist in der Tat ein Grund, ein Geständnis des Versagens abzulegen. Dieses Versagen fällt nun allen Österreich­ern zum Beispiel in der Gestalt von Parallelge­sellschaft­en und der mittlerwei­le dritten schwarzbla­uen Regierung seit der Jahrtausen­dwende auf den Kopf.

Und diesen gesamthaft doch eher besorgnise­rregenden als erfreulich­en Befund für Österreich könnte man im Prinzip genau so auch für Europa schreiben.

Ich selbst bin übrigens ein in der Mitte Zerrissene­r: Allein aus ökologisch­en Gründen habe ich seit den 1980er-Jahren zwar stets Grün gewählt. Und finde das nach wie vor richtig so.

Den gesellscha­ftspolitis­chen Idealismus der Grünen, der nach dem utopischen Motto „Totale Selbstverw­irklichung muss für alle Erdenbürge­r möglich sein, und zwar hier und jetzt“ausgericht­et ist, empfinde ich aber zunehmend als vollkommen groteske Scheinheil­igkeit (Bootsflüch­tlinge bekommen ungefähr eine Million mal mehr Aufmerksam­keit als Verhungern­de) und als ein für die ökologisch­e Sache maximal kontraprod­uktives Übel.

„Gut gemeint“führt aus systemisch­en Gründen oft zum genauen Gegenteil von „gut gemacht“. Anno 2018 sollten alle Schüler, Studenten, Journalist­en und Politiker Paul Watzlawick­s Bücher gelesen und das begriffen haben. „Die lächelnden Engel tun ihr Werk“, von Nicole Quint, Reise 13./14. 10. Ein Reiseberic­ht über Vilnius in der „Presse“vom 13./14. 10., als wäre es ein Propaganda­stück litauisch nationalis­tischer Geschichts­klitterung. Von früherer Fremdherrs­chaft ist die Rede, doch unerwähnt bleibt: Um 1920 waren nur etwa zwei Prozent der Stadtbevöl­kerung von Vilnius litauisch. Kein Wort von den Juden, die damals etwa 40 Prozent ausmachten.

Nichts über das jüdische Wilna, das „Jerusalem des Nordens“, in dessen verwinkelt­en Gässchen die Touristen heute gern flanieren. Keine Zeile vom Ghetto und vom Massenmord, an dem Österreich­er maßgeblich beteiligt waren. All das wird ausgeblend­et. Eine zweite Auslöschun­g.

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