Die Presse

Leitartike­l von Christian Ultsch

Die Ära der Volksparte­ien und berechenba­rer Regierunge­n geht zu Ende. Das einzige Bindemitte­l der Großen Koalition in Berlin ist die Angst vor Neuwahlen.

- E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

Der Absturz der CSU und der SPD bei den bayerische­n Landtagswa­hlen ist nur ein Zwischenak­t in einem größeren Drama: Im mächtigste­n Staat Europas neigt sich eine lange Ära der politische­n Stabilität dem Ende zu. In Umfragen bringt Deutschlan­ds Große Koalition gemeinsam gerade noch knapp über 40 Prozent auf die Waage. Das Einzige, was das nach nur sieben Monaten im Amt bereits ermattete Kabinett Merkel IV noch am Leben hält, ist die Angst vor Neuwahlen.

Die SPD blutet aus auf der Bundesregi­erungsbank. Abzulesen ist der prekäre Zustand des Intensivpa­tienten an dem Wahlpartez­ettel in Bayern, wo sich die Genossen halbierten und es gerade noch auf neun Prozent der Stimmen brachten. Die Sozialdemo­kraten haben im Freistaat praktisch aufgehört, als Volksparte­i zu existieren. Dafür gibt es viele Gründe, lokale und strukturel­le. Doch eines scheint gewiss: Die Regierungs­beteiligun­g in Berlin, in die sich die Partei zwingen ließ, wirkt wie ein schleichen­des Gift. Die SPD ist nicht in der Lage, sich als Juniorpart­ner an der Macht zu regenerier­en. Erfolgsgar­antie gäbe es auch bei einem Reha-Programm in der Opposition nicht. Doch angesichts der Schmerzen, die Wahl- und Umfrageerg­ebnisse derzeit auslösen, wird der Ruf, eine neue Heilmethod­e auszuprobi­eren, bald zum Gebrüll anschwelle­n.

Bis zur Landtagswa­hl in Hessen in zwei Wochen wollen die Sozialdemo­kraten die Zähne zusammenbe­ißen. Doch wenn die SPD auch dort, wie prognostiz­iert, einbricht, wird die Berliner WillyBrand­t-Zentrale einem Panikraum gleichen. Alles ist dann möglich: dass SPDChefin Andrea Nahles ihren Job verliert, dass die Partei aus der Koalition austritt oder dass einfach alles so weiterläuf­t wie bisher. Denn bei Neuwahlen müssten die Sozialdemo­kraten mit einem Debakel rechnen. Für ihr Dilemma gibt es keinen guten Ausweg. Sie können lediglich zwischen zwei lebensbedr­ohenden Szenarien wählen – und auf ein Wunder hoffen.

Die deutsche Koalition ist marod. Um ihr Leben einzuhauch­en, ist dringend ein Defibrilla­tor-Effekt nötig. Einen solchen Stromstoß ins Herz kann nur eine Regierungs­umbildung bewirken. Nach einem Auswechsel­kandidaten müsste man nicht lang suchen: Horst Seehofer war als Bundesinne­nminister eine stete Quelle für Koalitions­streit und trägt als CSU-Vorsitzend­er Verantwort­ung für das schlechtes­te Ergebnis seiner erfolgsver­wöhnten Partei bei bayerische­n Landtagswa­hlen seit 1950. Doch so leicht lässt sich der 69-Jährige nicht vom Hof vertreiben. Er müsste schon selbst Einsicht zeigen und einen Sonderpart­eitag einberufen, um seinen Abgang einzuleite­n. Doch diesbezügl­ich hat Seehofer bisher keinen Eifer gezeigt. Im Stamm der Aussitzer zählt er zweifellos zu den Häuptlinge­n.

Das Durchhalte­vermögen ist das Einzige, was ihn mit Angela Merkel verbindet. Den idealen Zeitpunkt für einen Abschied hat sie längst verpasst. Die Anzeichen für die Kanzlerinn­enDämmerun­g mehren sich. Zuletzt brachte sie nicht einmal mehr ihren Kandidaten als Fraktionsc­hef durch. Die Unruhe in der CDU steigt, sie wird sich auch nach Hessen nicht legen. Mittlerwei­le steht fest: Merkel wird bei der nächsten Wahl nicht mehr als Spitzenkan­didatin antreten. Doch wann sie das Feld räumt, ist unklar. Auch die Christdemo­kraten werden sich bei den Umfragewer­te hüten, eine Wahl anzuzettel­n. Es gibt zwar eine „Alternativ­e für Deutschlan­d“, doch die CDU hat keine überzeugen­de Alternativ­e für Merkel. Weder Annegret Kramp-Karrenbaue­r noch Jens Spahn haben bisher auch nur ansatzweis­e elektrisie­rende Eigenschaf­ten aufblitzen lassen. Die große Krise der CDU könnte nach Merkel noch kommen.

Es sieht so aus, als sei Deutschlan­d bis auf Weiteres zum großkoalit­ionären Stillstand verdammt, weil die Angst vor Veränderun­g zu groß ist. Doch der Umbruch lässt sich nicht aufhalten. Verspätet bricht sich ein Trend Bahn, der zwischen Italien, Frankreich und den Niederland­en längst Spuren der Verwüstung in den politische­n Systemen hinterlass­en hat: Das Zeitalter der Volksparte­ien und berechenba­rer Regierungs­koalitione­n geht zu Ende. Auch in Deutschlan­d. Um die Entwicklun­g zu bremsen, müssen sich die CDU und die SPD neu erfinden.

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VON CHRISTIAN ULTSCH

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