Warum sich die Zukunft nicht voraussagen lässt
Spenglers Theorie. Die Geschichte verläuft in Zyklen? Das ist grundfalsch, liefert aber spannende Analogien.
„In diesem Buche wird zum ersten Mal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen“: Mit diesem Satz beginnt Oswald Spengler sein Hauptwerk. Der in München lebende Einzelgänger mit dem strengen Blick war überzeugt, er habe in „Der Untergang des Abendlandes“eine „kopernikanische Wende“in der Geschichtsbetrachtung vollzogen. An Selbstbewusstsein hat es ihm also nicht gemangelt. Man mag es auch Größenwahn nennen.
Akribisch zeichnete der Philosoph nach, wie acht Hochkulturen in gleicher Weise als lebendige Formen wachsen, reifen und absterben mussten: die ägyptische, babylonische, indische, chinesische, antike, arabische und die abendländische. „Gleichzeitig“, also in der gleichen Lebensphase der jeweiligen Kultur, sind dabei die Epen Homers und das Nibelungenlied entstanden, haben Konfuzius und Kant gelehrt, eroberten Alexander der Große und Napoleon ihre Reiche. Sogar bis in die Mathematik und das Geldwesen trieb der immens gebildete Privatgelehrte seine Analogien voran. Nicht immer ohne Gewaltsamkeit. Auch die konkreten Prognosen wirken mäßig treffsicher. Nur wenige würden heute darauf wetten, dass die nächste Hochkultur aus Russland kommen und von Dostojewskis Religiosität geprägt sein werde. Und wie auch immer es mit dem Abendland weitergeht: Ein Rückfall in eine bäuerliche „Fellachenkultur“ist nicht zu erwarten (außer im Fall einer globalen ökologischen Katastrophe, aber dann gibt es nirgends mehr eine Hochkultur).
Man fragt sich: Warum hat sich überhaupt die Philosophie in das Geschäft der Historiker eingemischt? Dazu müsste sie etwas ausdeuten können, was das empirische Faktenwissen nicht erklären kann. So wie beim Erlebniswert des Bewusstseins, das sich nicht auf hirnphysiologische Vorgänge reduzieren lässt. Oder bei der Willensfreiheit, die wir in unserem Zusammenleben und Selbsterleben ständig voraussetzen, die aber nicht in unser physikalisches Weltbild passt. Doch solche kategorialen Widersprüche fehlen bei der Erforschung der Geschichte. Wer unsere Handlungen als frei gewählt ansieht, kann keine notwendige Abfolge erwarten. Wer die Welt für physikalisch geschlossen hält, für den ist zwar jedes Ereignis kausal determiniert und damit im Prinzip voraussagbar. Aber eben nur im Prinzip, weil tatsächlich so unsagbar viele Einflussfaktoren zusammenspielen, dass Geschichte wie zufällig über uns kommt (ähnlich ist es, trotz viel weniger Variablen, beim Wetter – weshalb wir über den „Bauernkalender“lächeln, der die Muster zu erkennen glaubt und über Jahre Prognosen macht). Ob es also keine Notwendigkeit im geschichtlichen Ablauf gibt oder ob wir sie unmöglich erkennen können: Geschichte lässt sich jedenfalls nicht vorhersagen. Und man sollte es deshalb auch nicht mit spekulativen Theorien versuchen.
Trotzdem lohnt die Lektüre Spenglers. Vieles hat er subtil analysiert, manches hellsichtig vorausgeahnt. Seine Verherrlichung des Krieges und seine Stereotypen über Juden taugen zumindest als Mahnung, wie abgründig kultivierte Bildungsbürger noch vor wenigen Generationen gedacht haben. Und wer den „Untergang“irgendwann erzürnt zuschlägt, kann ersatzweise zu „Spenglers Visionen“greifen – einem geistreich-kritischen Essay, den der Grazer Philosoph Peter Strasser zum 100-Jahr-Jubiläum verfasst hat. (gau)
Die Presse kann jede Wahrheit zum Tode verurteilen, indem sie ihre Vermittlung [. . .] nicht übernimmt. Oswald Spengler