Die Crowd rekonstruiert Vergangenes
Crowdsourcing. Ob alte Speisekarten, Handschriften der Shakespearezeit oder Österreichbilder aus der Luft: Interessierte User werden immer wertvoller für Archive und Forschung. Sie helfen, Unmengen historisches Material zu erschließen.
Internetnutzer werden immer wertvoller für Archive und Forscher.
Imported Frankfurter Sausages with Potato Salad“, lautet die erste Spezialität auf der Speisekarte des Fleischmann’s Vienna Restaurant in New York. Üppig ist sie für eine Karte aus der Endzeit des Ersten Weltkriegs. Märzenbräu-Bier und Hamburger Steak sind ebenso darauf wie französische Delikatessen. Man findet sie (u. a. neben alten Karten des Hotel Imperial), wenn man auf der Website des Projekts „What’s On the Menu?“der New York Public Library (NYPL) das Stichwort „Wien“eingibt. (Wer im Internet weitersucht, erfährt, dass das Lokal ebenso wie mehrere Vienna Bakerys von im späten 19. Jahrhundert in Wien in die Schule gegangenen, dann ausgewanderten Unternehmerbrüdern gegründet wurde; mit ihrer komprimierten Hefe verbesserten sie das amerikanische Brot und wurden die weltweit führenden Hefeproduzenten).
Zwar hatte New Yorks größte digitale Bibliothek lange Zeit eine der weltweit größten Speisekartensammlungen, doch die Masse des bis 1840 zurückreichenden Materials war kaum erschlossen. Dann aber stellte die Bibliothek sie 2011 ins Internet – rund 45.000 sind mittlerweile digitalisiert – und bat um Mithilfe: mit phänomenalem Erfolg.
Kollektive Genealogie der Mormonen
Seit einigen Tagen hat jetzt auch die Österreichische Nationalbibliothek ihre erste Crowdsourcing-Kampagne (von „crowd“für Menge und „sourcing“für Beschaffung): „Österreich aus der Luft“. Auf crowdsourcing.onb.ac.at kann man mithelfen, alte Luftaufnahmen zu erschließen, derzeit stehen drei Aufgaben zur Auswahl: Kategorisieren nach vorhandenen Kategorien, Taggen (freie stichwortartige Beschreibung) und Verorten auf einer digitalen Österreichkarte.
Erst seit dem neuen Jahrtausend haben große Archive und Forschungseinrichtungen das Crowdsourcing zur Erschließung von Materialmassen entdeckt. Der Begriff selbst existiert seit 2005. Doch die Praxis hat Vorläufer. Den ersten Aufruf zum genealogi- schen Crowdsourcing starteten 1942 die Mormonen unter ihren Mitgliedern. 800 Freiwillige halfen schon mit, um für das erste, 1884 veröffentlichte Oxford English Dictionary Wörter zu katalogisieren. Das heute unverzichtbare Crowdsourcing in der Astro- nomie gab es sogar schon im frühen 19. Jahrhundert, als der US-Astronom Denison Olmsted in einer Zeitung um Hilfe der Bevölkerung bei der Beobachtung von Meteorschauern bat. Sein Aufruf verbreitete sich weit in der Welt und verhalf ihm zu bahnbrechenden Erkenntnissen über das Phänomen der Meteorschauer.
Aus einem Online-Astronomieportal hat sich das gigantische Portal Zooniverse entwickelt, das vor allem, aber nicht nur naturwissenschaftliche Crowdsourcing-Projekte beherbergt. So sucht „Ancient Lives“Helfer zur Transkription griechischer Texte aus den Oxyrhynchus Papyri, einer Ende des 19. Jahrhunderts auf einer antiken Müllhalde entdeckten Papyrussammlung, „Shakespeare’s World“zur Transkription von Manuskripten, verfasst von Shakespeare-Zeitgenossen. Besonders ergiebig ist das historische Crowdsourcing, wenn es um die Erschließung von Geschichte mittels Familiengeschichte geht, etwa durch Kriegstagebücher.
Das alte New York nachbauen
Auf Zooniverse findet sich auch das Speisekartenprojekt „What’s On the Menu?“der New York Public Library. Aber die hat noch vieles mehr zu bieten – und wohl kaum eine andere kulturelle Institution ist auch so geschickt darin, Menschen zum Mitmachen zu animieren. Ihre Projekte sind leicht zugänglich – um am Speisekartenprojekt mitzuwirken, braucht es nicht einmal eine Registrierung – und „g’schmackig“präsentiert. Mit dem Slogan „Kill Time, Make History“wirbt sie etwa für ihr 2013 gestartetes Projekt „Building Inspector“, das auch auf dem Handy gut funktioniert. Auf der Grundlage historischer Karten des alten New York – hauptsächlich Versicherungsatlanten von 1857 bis 1862 – soll das damalige Stadtbild rekonstruiert werden, indem die User auf den Karten Gebäude und andere Details identifizieren.
Den umgekehrten Weg ging einst Paris: Um das Stadtbild der Gegenwart für die Zukunft festzuhalten, sponserte die Stadt im Jahr 1970 den Amateurfotografen-Wettbewerb „Das war Paris 1970“. 14.000 Fotografen produzierten damals 70.000 Schwarz-Weiß-Fotos und 30.000 Farbdias, die gingen anschließend an die historische Bibliothek der Stadt. Auch das war eine frühe Form des Crowdsourcing.