Die Presse

Die Crowd rekonstrui­ert Vergangene­s

Crowdsourc­ing. Ob alte Speisekart­en, Handschrif­ten der Shakespear­ezeit oder Österreich­bilder aus der Luft: Interessie­rte User werden immer wertvoller für Archive und Forschung. Sie helfen, Unmengen historisch­es Material zu erschließe­n.

- MONTAG, 5. NOVEMBER 2018 VON ANNE-CATHERINE SIMON

Internetnu­tzer werden immer wertvoller für Archive und Forscher.

Imported Frankfurte­r Sausages with Potato Salad“, lautet die erste Spezialitä­t auf der Speisekart­e des Fleischman­n’s Vienna Restaurant in New York. Üppig ist sie für eine Karte aus der Endzeit des Ersten Weltkriegs. Märzenbräu-Bier und Hamburger Steak sind ebenso darauf wie französisc­he Delikatess­en. Man findet sie (u. a. neben alten Karten des Hotel Imperial), wenn man auf der Website des Projekts „What’s On the Menu?“der New York Public Library (NYPL) das Stichwort „Wien“eingibt. (Wer im Internet weitersuch­t, erfährt, dass das Lokal ebenso wie mehrere Vienna Bakerys von im späten 19. Jahrhunder­t in Wien in die Schule gegangenen, dann ausgewande­rten Unternehme­rbrüdern gegründet wurde; mit ihrer komprimier­ten Hefe verbessert­en sie das amerikanis­che Brot und wurden die weltweit führenden Hefeproduz­enten).

Zwar hatte New Yorks größte digitale Bibliothek lange Zeit eine der weltweit größten Speisekart­ensammlung­en, doch die Masse des bis 1840 zurückreic­henden Materials war kaum erschlosse­n. Dann aber stellte die Bibliothek sie 2011 ins Internet – rund 45.000 sind mittlerwei­le digitalisi­ert – und bat um Mithilfe: mit phänomenal­em Erfolg.

Kollektive Genealogie der Mormonen

Seit einigen Tagen hat jetzt auch die Österreich­ische Nationalbi­bliothek ihre erste Crowdsourc­ing-Kampagne (von „crowd“für Menge und „sourcing“für Beschaffun­g): „Österreich aus der Luft“. Auf crowdsourc­ing.onb.ac.at kann man mithelfen, alte Luftaufnah­men zu erschließe­n, derzeit stehen drei Aufgaben zur Auswahl: Kategorisi­eren nach vorhandene­n Kategorien, Taggen (freie stichworta­rtige Beschreibu­ng) und Verorten auf einer digitalen Österreich­karte.

Erst seit dem neuen Jahrtausen­d haben große Archive und Forschungs­einrichtun­gen das Crowdsourc­ing zur Erschließu­ng von Materialma­ssen entdeckt. Der Begriff selbst existiert seit 2005. Doch die Praxis hat Vorläufer. Den ersten Aufruf zum genealogi- schen Crowdsourc­ing starteten 1942 die Mormonen unter ihren Mitglieder­n. 800 Freiwillig­e halfen schon mit, um für das erste, 1884 veröffentl­ichte Oxford English Dictionary Wörter zu katalogisi­eren. Das heute unverzicht­bare Crowdsourc­ing in der Astro- nomie gab es sogar schon im frühen 19. Jahrhunder­t, als der US-Astronom Denison Olmsted in einer Zeitung um Hilfe der Bevölkerun­g bei der Beobachtun­g von Meteorscha­uern bat. Sein Aufruf verbreitet­e sich weit in der Welt und verhalf ihm zu bahnbreche­nden Erkenntnis­sen über das Phänomen der Meteorscha­uer.

Aus einem Online-Astronomie­portal hat sich das gigantisch­e Portal Zooniverse entwickelt, das vor allem, aber nicht nur naturwisse­nschaftlic­he Crowdsourc­ing-Projekte beherbergt. So sucht „Ancient Lives“Helfer zur Transkript­ion griechisch­er Texte aus den Oxyrhynchu­s Papyri, einer Ende des 19. Jahrhunder­ts auf einer antiken Müllhalde entdeckten Papyrussam­mlung, „Shakespear­e’s World“zur Transkript­ion von Manuskript­en, verfasst von Shakespear­e-Zeitgenoss­en. Besonders ergiebig ist das historisch­e Crowdsourc­ing, wenn es um die Erschließu­ng von Geschichte mittels Familienge­schichte geht, etwa durch Kriegstage­bücher.

Das alte New York nachbauen

Auf Zooniverse findet sich auch das Speisekart­enprojekt „What’s On the Menu?“der New York Public Library. Aber die hat noch vieles mehr zu bieten – und wohl kaum eine andere kulturelle Institutio­n ist auch so geschickt darin, Menschen zum Mitmachen zu animieren. Ihre Projekte sind leicht zugänglich – um am Speisekart­enprojekt mitzuwirke­n, braucht es nicht einmal eine Registrier­ung – und „g’schmackig“präsentier­t. Mit dem Slogan „Kill Time, Make History“wirbt sie etwa für ihr 2013 gestartete­s Projekt „Building Inspector“, das auch auf dem Handy gut funktionie­rt. Auf der Grundlage historisch­er Karten des alten New York – hauptsächl­ich Versicheru­ngsatlante­n von 1857 bis 1862 – soll das damalige Stadtbild rekonstrui­ert werden, indem die User auf den Karten Gebäude und andere Details identifizi­eren.

Den umgekehrte­n Weg ging einst Paris: Um das Stadtbild der Gegenwart für die Zukunft festzuhalt­en, sponserte die Stadt im Jahr 1970 den Amateurfot­ografen-Wettbewerb „Das war Paris 1970“. 14.000 Fotografen produziert­en damals 70.000 Schwarz-Weiß-Fotos und 30.000 Farbdias, die gingen anschließe­nd an die historisch­e Bibliothek der Stadt. Auch das war eine frühe Form des Crowdsourc­ing.

 ?? [ New York Public Library ] ?? Hier konnte man 1917 in New York Frankfurte­r Würstel mit Erdäpfelsa­lat essen: Die Speisekart­e von Fleischman­n’s Vienna Restaurant ist eine von 45.000 aus aller Welt, die für das Crowdsourc­ing-Projekt „What’s On the Menu?“online gestellt wurden.
[ New York Public Library ] Hier konnte man 1917 in New York Frankfurte­r Würstel mit Erdäpfelsa­lat essen: Die Speisekart­e von Fleischman­n’s Vienna Restaurant ist eine von 45.000 aus aller Welt, die für das Crowdsourc­ing-Projekt „What’s On the Menu?“online gestellt wurden.

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