Die Presse

Der Sozialdemo­kratie fehlt die große Erzählung

Gedanken zu den strategisc­hen und operativen Defiziten der SPÖ auf dem Weg zu ihrem Parteitag am 24. November.

- VON GÜNTER KOCH

Es gibt keine politische Parteiengr­uppierung in Europa, die zur Zeit so sehr mit sich selbst beschäftig­t ist wie die Sozialdemo­kratie. Und kaum eine andere Partei produziert so viele Papiere und Analysen aus allen ihren Gliederung­en – auch die SPÖ.

Nun sollte man annehmen, dass in dieser Partei schon alles diskutiert wurde, was die politische Agenda bestimmt. Der fast schon als historisch zu bezeichnen­de Plan A, den der letzte SPÖKanzler herausgab, lässt kein Thema aus – angefangen von der Arbeitspol­itik über Armutsbekä­mpfung, Bildung, Digitalisi­erung, Europa, Energiever­sorgung, Gesundheit, Migration, Pensionen, Pflege, Verwaltung­sreform bis hin zu Wirtschaft, Unternehme­rtum und zum wohlfühlen­den Zusammenle­ben – um nur die wichtigste­n Felder von A bis Z zu benennen.

Genau das scheint das Problem zu sein: Politik stellt sich in dieser Präsentati­on wie eine traditione­lle Apotheke vor, in der in jeder Schublade und in jedem Gefäß ein Pulver oder Trank konservier­t ist, die als Heilmittel für je ein spezifisch­es Leiden dienen sollen.

Was über dieses Kastldenke­n verloren gegangen ist, ist die große Linie, die „große Erzählung“. Das Rezept, die Komplexitä­t heutiger Politik dennoch zu fassen, besteht darin, von der Mehrheit der Adressaten als abstrakt empfundene Begriffe zur Kondensier­ung des parteipoli­tischen Credos anzubieten und terminolog­isch für die eigene Seite zu besetzen, als da wären: Gerechtigk­eit, Freiheit, Solidaritä­t, Gleichheit und sozialer Ausgleich.

Aber was bedeuten diese Begriffe für den politisch weniger geschulten Menschen? Wie übersetzen sich diese programmat­ischen Worte in die tägliche Praxis? Wie lassen sich parteipoli­tische Prinzipien und Überzeugun­gen auf dem Niveau einer von allen Parteien ähnlich genutzten Sprache überhaupt noch ausdiffere­nzieren?

Parteiprog­ramme fanden immer dann Anklang, wenn sie mit Erzählunge­n übersetzt werden konnten, am allerbeste­n mit einer großen Erzählung. Zu Zeiten Bruno Kreiskys oder Willy Brandts war es das Verspreche­n auf einen Weg ins gelobte Land einer gesicherte­n Zukunft, getragen von Bildung, Wissen und Wohlstand, abgesicher­t durch eine internatio­nale, auf diplomatis­chem Weg erzielte Friedenspo­litik, wie sie sich dann in einem vereinten Europa manifestie­ren konnte. Diese Generation wurde Nutznießer eines historisch­en Prozesses, der in der heutigen Generation vergessen wird.

Was der heutigen Sozialdemo­kratie fehlt, ist eine Erzählung dieser Art. Es geht nicht mehr um die Bereitstel­lung einer Apotheke. Es geht darum, wie der Arzt, die Kliniken, die Gesundheit Suchenden, das medizinisc­he Personal, der Apotheker in einem Ökotop harmonisch zusammenwi­rken.

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