Warum Erdo˘gans Arm weit reicht
Thesen. Die Regierungspartei AKP sieht die Diaspora als einen Teil der Innenpolitik – und hat dafür eigene Behörden und Strukturen erschaffen. Das allein macht den Erfolg Erdo˘gans in Österreich jedoch nicht aus.
Etwa 300.000 türkeistämmige Menschen leben in Österreich, und immer wieder landet die Community in den Schlagzeilen – nicht nur zu Wahlzeiten. Das Verhältnis wird politisch von vielen Seiten instrumentalisiert; die Debatte ist emotional behaftet. Vor allem seit 2014 sind die Fronten verhärtet. Nicht nur feierten in diesem Jahr Österreich und die Türkei das 50-Jahr-Jubiläum des Gastarbeiterabkommens, sondern 2014 markierte auch den Beginn einer bilateralen Krise. Mehrere Ereignisse fielen da zusammen: Demonstrationen, umstrittene Fernsehauftritte, Debatten um geplante Imam-Schulen und vor allem der Auftritt des wahlkämpfenden Premiers Recep Tayyip Erdogan˘ in Wien. Das Jahr zeigte auf, welche Dynamiken und Allianzen sich in der Community gerade bildeten, und vor allem stellte sich einmal mehr die Frage, wie weit der Einfluss der türkischen Regierungspartei in die Diaspora reicht.
Eine Frage, die nach dem Putschversuch 2016 erneut auftauchte, so auch während diverser AKP-Wahlkämpfe im Ausland, zuletzt in Sarajewo heuer im Frühling, wobei auch viele Anhänger aus Österreich teilnahmen. Der viel zitierte lange Arm Erdogans˘ – er ist da, und er reicht durchaus weit. Wie gelang es der AKP, derart erfolgreich zu sein? Eine Annäherung in fünf Thesen:
Erstens: In Zeiten von transnationalen Identitäten und des globalen Zeitalters können Loyalitäten vielschichtig sein, sie können sich auf die Türkei beziehen und gleichzeitig auf Österreich. Die eine Loyalität schließt die andere nicht aus. Schwieriger ist es, die Loyalität auf der emotionalen Ebene zu beschreiben – den Jubel, den junge Menschen einem Erdogan˘ entgegenbringen, die noch nie in der Türkei gelebt haben. Das hat wohl damit zu tun, dass dieses Land Österreich trotz allem nah ist: geografisch, aber auch über die Nachrichten, über soziale Medien. Die emotionale Verbindung wurde über all die Jahrzehnte unter anderem dadurch aufrechterhalten, dass die Migrationsströme aus der Türkei bis heute nicht aufgehört haben. Kamen zunächst die „Gastarbeiter“, waren es später deren Familien, dann politische Flüchtlinge, Geschäftsleute, Studierende, bis hin zu den nun verfolgten Anhängern des Predigers Fethullah Gülen.
Keine geografischen Grenzen mehr
Zweitens liegt der Einfluss nicht nur an den Türkeistämmigen selbst. In Ankara regiert mit der AKP eine Partei, die den Kontakt mit der Diaspora nicht nur offensiv gesucht, sondern für deren Einbindung in die Türkei eine eigene Strategie entwickelt hat. Die Regierung gründete innerhalb weniger Jahre neue Behörden und Strukturen, die sich der Türkeistämmigen weltweit annehmen sollten – das Amt für Auslandstürken ist ein Beispiel dafür. Darüber hinaus animierte sie die in Europa angesiedelte Community, selbst Vereine zu gründen. Das heißt, dass die AKP die Beziehungen zwischen Ankara und den Türkeistämmigen institutionalisiert hat. Die Einführung des Auslandswahlrechts hatte ab 2014 zudem zur Folge, dass der türkische Wahlkampf keine geografischen Grenzen mehr kennt.
Drittens kam Ankara zwar nicht ohne Plan auf die Türkeistämmigen zu, aber die Gemeinschaft hier musste diesen Plan auch akzeptieren. Rückblickend war das für die AKP kein großes Risiko, denn die Partei fand ein weit verstreutes Vereinswesen vor, das ehemalige Gastarbeiter in den vergangenen Jahrzehnten mehr oder weniger autonom aufgebaut hatten. In konservativen, rechten und rechtsextremen Vereinen und Institutionen zeigte man sich empfänglich für die Ideale der AKP. Parallel zu dieser Entwicklung fingen die betroffenen Vereine in Österreich an, sich einander anzunähern – auch das ist eine neue Entwicklung.
Viertens hängt nicht alles von der Türkei und der türkeistämmigen Diaspora ab. Im Nachkriegsösterreich waren „die Türken“jahrzehntelang die am stärksten fremd empfundene Gemeinschaft, ehe die Zuwanderung viel diverser wurde. Aber das Fremdsein haftet der Community weiterhin an, Klischees und Vorurteile werden vor allem, aber nicht nur, von rechten Parteien weiterhin bedient. Die gesamte Integrationsdebatte wird bisweilen so geführt, als ob die Integration der türkeistämmigen Gemeinschaft per se nicht möglich wäre.
Fünftens ist die türkeistämmige Gemeinschaft in Österreich eher konservativ. Ein Großteil der frühen Gastarbeiter stammt nun einmal aus den ländlichen Regionen. So divers die Community heute ist, und so viele sich auch dagegen wehren, sich von der autoritären Politik Erdogans˘ vereinnahmen zu lassen (freilich auch innerhalb des konservativen Spektrums): Die religiösen und rechtsgerichteten Gruppen dürften eben eine leichte Mehrheit stellen. Auch das hat den Eintritt Erdogans˘ in den österreichischen Polit-Alltag erleichtert.