Die Presse

Wer rückfällig wird, weiß man nicht

Maßnahmenv­ollzug. Die Reform für den Umgang mit geistig abnormen Rechtsbrec­hern lässt auf sich warten. Psychiater Reinhard Eher hat beim ersten Entwurf mitgearbei­tet.

- VON ULRIKE WEISER

Die Presse: Kriminolog­e Christian Grafl hat zuletzt vorgerechn­et, dass die Zahl der Einweisung­en von „geistig abnormen Rechtsbrec­hern“seit 2015 stark gestiegen ist. Als mögliche Ursache nannte er den Brunnenmar­ktFall Teilen

Sie seine Einschätzu­ng? Reinhard Eher: Die Zahl der Einweisung­en steigt – mit einigen interessan­ten Knicks – seit 20 Jahren. Es werden mehr Menschen eingewiese­n, und sie bleiben länger in der Anstalt.

Warum? Da muss ich ausholen. 1993 wurden im gesamten deutschspr­achigen Bereich im gelockerte­n Vollzug mehrere Tötungsdel­ikte begangen. Damals gab es in Kanada bereits eine strukturie­rte Kriminalpr­ognose, und wir haben begonnen, diese Methoden zu importiere­n. Dass wir Risiko besser erfassen konnten, hatte dann einen Einfluss auf diese Entwicklun­g.

Sobald man das Risiko kannte, musste man darauf reagieren? Genau. Es gab noch einen zweiten Effekt: die „Psychiatri­sierung“der Kriminalit­ät. Mehr und mehr hat man auch die übliche Kriminalit­ät aus dem Blickwinke­l der Psychiatri­e gesehen. Da wurde teilweise übertriebe­n. Der Begriff „geistigsee­lische Abartigkei­t höheren Grades“, die Voraussetz­ung für die Einweisung ist, wurde großzügige­r interpreti­ert.

Reden wir über diese Knicks: Beeinfluss­en also Einzelfäll­e wie der Brunnenmar­kt- oder der Neusiedler-See-Fall

die Psychiater und die Richter? Es gibt Gründe zu glauben, dass spektakulä­re Einzelfäll­e auf die Beurteilun­g einer individuel­len Gefährlich­keit rückwirken. Man muss aber die Konsequenz, die man aufgrund einer bestimmen Gefährlich­keit zieht, von deren Messung unterschei­den. Wir können Gefährlich­keit sehr genau messen, aber wir können nie sagen, ob ein bestimmter Gefährlich­keitsgrad künftig auch mit Sicherheit ein bestimmtes Verhalten nach sich zieht. Das wäre Hellsehere­i. Zum Vergleich: Ein Mensch mit hohem Risiko für Herzinfark­t kann noch zehn Jahre leben. Einer, der kein Risiko für einen Herzinfark­t aufweist, kann dennoch morgen sterben. Das ändert nichts an der korrekten Risikoerfa­ssung. Wenn man nun vorsichtig­er ist, wird man schon bei einer geringeren Gefährlich­keit eine Maßnahme verhängen. Der Schwellenw­ert hat sich auch erwiesener­maßen verschoben. Die Gesellscha­ft ist eher bereit, eine freiheitse­ntziehende Maßnahme zu verhängen, als noch vor 20 Jahren.

Früher reichten also z. B. 70 Prozent Deliktwahr­scheinlich­keit für eine Einweisung, nun reichen 50 Prozent? Studien aus dem Ausland belegen, dass manche Fachleute bei einem Wahrschein­lichkeitsg­rad für ein Delikt von zehn Prozent von einer hohen Wahrschein­lichkeit sprechen, während andere bei 70 Prozent von einer mittleren reden. Auch bei Psychiater­n und Psychologe­n gibt es da eine große Diskrepanz.

Gibt es keine Leitlinien? Es geht vor allem um Risikokomm­unikation: Wann spricht man beim Risiko von hoch, mittel oder niedrig? Da braucht es bessere Anhaltspun­kte. Es spielen aber auch Formulieru­ngen eine Rolle. Es macht für die Beurteilun­g einen Riesenunte­rschied, ob man von einer vierzigpro­zentigen Rückfallwa­hrscheinli­chkeit oder von sechzig Prozent Bewährungs­chance spricht. ist forensisch­er Psychiater und leitet die Begutachtu­ngsstelle für Gewalt- und Sexualstra­ftäter der Justiz. Er hat am ursprüngli­chen Reformentw­urf für den Maßnahmenv­ollzug mitgearbei­tet. Drei Psychiater können also das gleiche Ergebnis als hohes, mittleres oder niedriges Risiko interpreti­eren? Ja. Selbst wenn bei einem strukturie­rten Risikoabsc­hätzungsve­rfahren der exakt gleiche Wert herauskomm­t. Wobei letztlich aber der Richter das Risiko beurteilt.

Wie beurteilen Sie generell die Qualität der Gutachten? Die Gesamtentw­icklung ist positiv. Natürlich ist es bitter, wenn jemand rückfällig wird, obwohl man dachte, dass er ausreichen­d behandelt worden sei. Insofern kann die Verlängeru­ng der Anhaltedau­er bei Maßnahmen auch ihr Gutes haben. Eine schwere Störung kann so länger therapiert werden.

Aber wird die Zeit immer sinnvoll genutzt? Ich denke an den Vorfall in Stein 2014, den Mann mit dem verwesende­n Bein. Der Fall ist insofern interessan­t, weil danach die Einweisung­sraten zunächst zurückgega­ngen sind. Damals sah man mehr den Patienten als den Gefährlich­en. Was die Therapie betrifft: Man darf nie zufrieden sein. Bei manchen schweren Störungen ist auch gar nicht gesichert, ob diese oder jene Interventi­on überhaupt wirkt. Wir sind z. B. auch noch nicht gut genug darin, die Veränderun­g des Risikos zu messen. Wir können zwar korrekt sagen, wer gefährlich ist, aber nur schwer, ob jemand weniger gefährlich geworden ist. Ein Beispiel: Ein Insasse lernt irgendwann, die Regeln in der Anstalt zu befolgen, er benimmt sich ordentlich. Dem Gutachter erscheint er als anderer Mensch, er attestiert ihm eine Veränderun­g, die auch da ist. Aber ist die Veränderun­g dann auch relevant in Bezug auf seine Gefährlich­keit?

Eine Reformidee war, die Einweisung­shürden anzuheben. Statt Delikte mit mehr als einem Jahr Strafdrohu­ng sollten nur solche mit mehr als drei Jahren reichen. Wären Sie dafür? Da gibt es keine Ja/Nein-Antwort. Vielleicht würden dann Leute nicht eingewiese­n, bei denen es aber nötig wäre. Allerdings wissen wir auch, dass jetzt Menschen eingewiese­n werden, die nicht rückfällig werden. Wir können eben nur Gefährlich­keit, nicht aber Rückfällig­keit messen.

Sie haben beim ersten Reformentw­urf für den Maßnahmenv­ollzug mitgearbei­tet . . . Ich war mit der Gefährlich­keitsmessu­ng befasst. Die Expertenme­inungen liegen auf dem Tisch, jetzt läuft der politische Gärprozess.

Laut Justizmini­ster soll dieser Ende des Jahres fertig sein. Ist es nicht bedenklich, dass Einzelfäll­e auch die Politik stark beeinfluss­en? Der Fall in Stein hat die Reform angestoßen, der Brunnenmar­kt-Fall hat sie gestoppt. Man kann auch sagen: Er hat sie geglättet. Es gab erst eine Erregungss­pitze in die eine, dann in die andere Richtung. Vielleicht pendelt es sich ein.

Das ist doch sehr zufällig. Passieren ähnliche Fälle, sieht die Entwicklun­g gleich ganz anders aus. Möglich. Aber letztendli­ch stoßen Einzelfäll­e auch immer Bemühungen für Verbesseru­ngen an.

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