Die Presse

Dem Osten gehen die Arbeiter aus

Osteuropa. Der Arbeitskrä­ftemangel hemmt die Expansion, stark steigende Lohnkosten machen weniger wettbewerb­sfähig. Davor warnen Experten des Kreditvers­icherers Coface. Polen lässt nun Migration aus der Ferne zu – zähneknirs­chend.

- VON KARL GAULHOFER

Sieht doch bestens für die Wirtschaft in Osteuropa aus! – auf den schnellen Blick. Sicher, das rasante Wachstum schwächt sich heuer etwas ab. Aber vier Prozent mehr Wirtschaft­sleistung: Davon kann der Westen oder Süden Europas nur träumen. Auch die Arbeitslos­igkeit ist historisch niedrig, in Tschechien herrscht sogar Vollbeschä­ftigung. Der Arbeitsmar­kt ist wie leer gefegt. Aber genau das bereitet den Unternehme­n immer mehr Kopfzerbre­chen: „Alle Umfragen zeigen: Der Mangel an Arbeitskrä­ften ist der größte Hemmschuh und die größte Sorge“, sagt Grzegorz Sielewicz, Osteuropaö­konom beim Kreditvers­icherer Coface. Wer keine Mitarbeite­r findet, kann nicht expandiere­n, auch wenn die Nachfrage da wäre. Damit bleiben oft Investitio­nen aus, der Treiber künftigen Wachstums. Wie ist es so weit gekommen?

Alle osteuropäi­schen Länder haben extrem niedrige Geburtenra­ten. Viele Jüngere sind in westliche EU-Staaten ausgewande­rt. Die Bevölkerun­g schrumpft. Nach UNPrognose­n werden in den vier Visegrad-´Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei) bis 2050 um über acht Millionen Menschen weniger leben. Dieses Minus von 13 Prozent ist der tiefste Fall von allen Regionen weltweit.

„Ähnliche Kulturen“aus Asien

Nun sind die Geburtenra­ten auch in Österreich oder Deutschlan­d nicht viel höher. Aber hier stabilisie­rt Zuwanderun­g die Bevölkerun­gszahlen. Nicht so in den Visegrad-´Staaten, wo sich nationalko­nservative und rechtspopu­listische Regierunge­n erbittert gegen Zuzug von außen wehren. Besonders strikt in Orbans´ Ungarn. Dort melden 87 Prozent der Industrieu­nternehmen, dass sie ihre Produktion­smengen aus Mangel an Arbeitskrä­ften drosseln müssen. Freilich ist Ungarn schon wegen der schwer zu erlernende­n Sprache kein Wunschziel für Migranten. Ukrainer und Weißrussen zieht es eher in Länder mit slawischen Sprachen. So hat die polnische Regierung zähneknirs­chend den „temporären“Zuzug aus diesen Nachbarlän­dern zugelassen.

Bis zu zwei Millionen Ukrainer arbeiten nun in Polen. Die Wirtschaft drängt darauf, sie auf Dauer bleiben zu lassen. Fast unbemerkt kommt es hier zu einer der größten Wanderungs­bewegungen in Europa. Aber das Problem ist so nur kurzfristi­g gelöst, meint Sielewicz: „Jetzt gibt es Lücken in der Ukraine.“Und wenn etwa Deutschlan­d seine Regeln für (Saison)Arbeitskrä­fte lockert, gehen Ukrainer lieber dorthin. Deshalb streckt die Regierung in Warschau, ganz gegen ihre ausländerf­eindliche Doktrin, die Fühler weiter aus. „Es müssen aber ,ähnliche Kultu- ren‘ sein“, erklärt der Coface-Ökonom, selbst ein Pole. Und das heißt: „Nur keine Muslime.“Wohl aber Migranten von den Philippine­n (ein katholisch­es Land), aus Vietnam, Indien oder Bangladesc­h. Freilich noch zaghaft, um die eigene Wählerbasi­s nicht allzu sehr zu verschreck­en.

Weniger aus dem EU-Budget

Die Arbeitskna­ppheit führt auch zu rapide steigenden Löhnen. Um knapp zehn Prozent erhöhen sich die Arbeitskos­ten heuer. Das belebt zwar den Konsum – eine willkommen­e Tendenz in Volkswirts­chaften, die (zu) stark vom Export abhängen, wie Tschechien, die Slowakei und die baltischen Staaten. Aber die Lohnsteige­rungen sind höher als das Produktivi­tätswachst­um. Und „wenn das so weitergeht, schadet es der Wettbewerb­sfähigkeit“. Ein Ausweg wäre, stärker zu automatisi­eren. Aber auch Roboter brauchen Arbeiter, die sie steuern, und zwar hoch qualifizie­rte – und dies kann das Bildungssy­stem meist nicht liefern.

Noch ein Risiko ist von Politik getrieben: Ein nicht kleiner Teil des Wachstums kommt von den Milliarden, die aus dem EU-Kohäsionsf­onds in die Region fließen, vor allem für Infrastruk­tur. Was, wenn die Mittel gekürzt werden, weil Warschau und Budapest den Rechtsstaa­t weiter einschränk­en? Sielewicz hält das für „wenig wahrschein­lich“, weil solche Beschlüsse einstimmig erfolgen müssen. Polen und Ungarn werden sich dabei „immer Solidaritä­t zeigen“. Sehr wohl aber sei damit zu rechnen, dass die EU-Mittel im neuen Budget durch das Ausscheide­n des Nettozahle­rs Großbritan­nien sinken. Und darauf seien die CEEStaaten „nicht vorbereite­t“: „Es gibt keine Strategie für nach 2022“. Viel akutere Probleme haben Auftragneh­mer von öffentlich­en Bauprojekt­en, vor allem in Polen, der bei Weitem größten CEE-Volkswirts­chaft: Der Staat zahlt im Schnitt 160 Tage zu spät. Die Materialpr­eise sind nicht indexiert, wodurch bei steigenden Rohstoffko­sten der Auftrag rasch zum Verlustges­chäft wird. Die Folge: Die Branche schreibt in der Region rote Zahlen, es gibt immer mehr Pleiten. Auch insgesamt steigt die Zahl der Insolvenze­n in Osteuropa seit 2017 an, allerdings vom sehr tiefen Niveau der beiden Jahre davor.

Insgesamt hält Coface-Österreich-Chef Michael Tawrowsky die Region für Geschäftsb­eziehungen heimischer Firmen weiter für „stabiler“als andere Schwellenm­ärkte wie China: „Es ist die sicherere Sache – auch wenn die Zeit gekommen ist, vorsichtig­er zu sein.“

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[ Bloomberg ] Dringend gesucht: Arbeitskrä­fte in Osteuropa (hier eine Elektrolux­Fabrik in Polen).

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