Dem Osten gehen die Arbeiter aus
Osteuropa. Der Arbeitskräftemangel hemmt die Expansion, stark steigende Lohnkosten machen weniger wettbewerbsfähig. Davor warnen Experten des Kreditversicherers Coface. Polen lässt nun Migration aus der Ferne zu – zähneknirschend.
Sieht doch bestens für die Wirtschaft in Osteuropa aus! – auf den schnellen Blick. Sicher, das rasante Wachstum schwächt sich heuer etwas ab. Aber vier Prozent mehr Wirtschaftsleistung: Davon kann der Westen oder Süden Europas nur träumen. Auch die Arbeitslosigkeit ist historisch niedrig, in Tschechien herrscht sogar Vollbeschäftigung. Der Arbeitsmarkt ist wie leer gefegt. Aber genau das bereitet den Unternehmen immer mehr Kopfzerbrechen: „Alle Umfragen zeigen: Der Mangel an Arbeitskräften ist der größte Hemmschuh und die größte Sorge“, sagt Grzegorz Sielewicz, Osteuropaökonom beim Kreditversicherer Coface. Wer keine Mitarbeiter findet, kann nicht expandieren, auch wenn die Nachfrage da wäre. Damit bleiben oft Investitionen aus, der Treiber künftigen Wachstums. Wie ist es so weit gekommen?
Alle osteuropäischen Länder haben extrem niedrige Geburtenraten. Viele Jüngere sind in westliche EU-Staaten ausgewandert. Die Bevölkerung schrumpft. Nach UNPrognosen werden in den vier Visegrad-´Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei) bis 2050 um über acht Millionen Menschen weniger leben. Dieses Minus von 13 Prozent ist der tiefste Fall von allen Regionen weltweit.
„Ähnliche Kulturen“aus Asien
Nun sind die Geburtenraten auch in Österreich oder Deutschland nicht viel höher. Aber hier stabilisiert Zuwanderung die Bevölkerungszahlen. Nicht so in den Visegrad-´Staaten, wo sich nationalkonservative und rechtspopulistische Regierungen erbittert gegen Zuzug von außen wehren. Besonders strikt in Orbans´ Ungarn. Dort melden 87 Prozent der Industrieunternehmen, dass sie ihre Produktionsmengen aus Mangel an Arbeitskräften drosseln müssen. Freilich ist Ungarn schon wegen der schwer zu erlernenden Sprache kein Wunschziel für Migranten. Ukrainer und Weißrussen zieht es eher in Länder mit slawischen Sprachen. So hat die polnische Regierung zähneknirschend den „temporären“Zuzug aus diesen Nachbarländern zugelassen.
Bis zu zwei Millionen Ukrainer arbeiten nun in Polen. Die Wirtschaft drängt darauf, sie auf Dauer bleiben zu lassen. Fast unbemerkt kommt es hier zu einer der größten Wanderungsbewegungen in Europa. Aber das Problem ist so nur kurzfristig gelöst, meint Sielewicz: „Jetzt gibt es Lücken in der Ukraine.“Und wenn etwa Deutschland seine Regeln für (Saison)Arbeitskräfte lockert, gehen Ukrainer lieber dorthin. Deshalb streckt die Regierung in Warschau, ganz gegen ihre ausländerfeindliche Doktrin, die Fühler weiter aus. „Es müssen aber ,ähnliche Kultu- ren‘ sein“, erklärt der Coface-Ökonom, selbst ein Pole. Und das heißt: „Nur keine Muslime.“Wohl aber Migranten von den Philippinen (ein katholisches Land), aus Vietnam, Indien oder Bangladesch. Freilich noch zaghaft, um die eigene Wählerbasis nicht allzu sehr zu verschrecken.
Weniger aus dem EU-Budget
Die Arbeitsknappheit führt auch zu rapide steigenden Löhnen. Um knapp zehn Prozent erhöhen sich die Arbeitskosten heuer. Das belebt zwar den Konsum – eine willkommene Tendenz in Volkswirtschaften, die (zu) stark vom Export abhängen, wie Tschechien, die Slowakei und die baltischen Staaten. Aber die Lohnsteigerungen sind höher als das Produktivitätswachstum. Und „wenn das so weitergeht, schadet es der Wettbewerbsfähigkeit“. Ein Ausweg wäre, stärker zu automatisieren. Aber auch Roboter brauchen Arbeiter, die sie steuern, und zwar hoch qualifizierte – und dies kann das Bildungssystem meist nicht liefern.
Noch ein Risiko ist von Politik getrieben: Ein nicht kleiner Teil des Wachstums kommt von den Milliarden, die aus dem EU-Kohäsionsfonds in die Region fließen, vor allem für Infrastruktur. Was, wenn die Mittel gekürzt werden, weil Warschau und Budapest den Rechtsstaat weiter einschränken? Sielewicz hält das für „wenig wahrscheinlich“, weil solche Beschlüsse einstimmig erfolgen müssen. Polen und Ungarn werden sich dabei „immer Solidarität zeigen“. Sehr wohl aber sei damit zu rechnen, dass die EU-Mittel im neuen Budget durch das Ausscheiden des Nettozahlers Großbritannien sinken. Und darauf seien die CEEStaaten „nicht vorbereitet“: „Es gibt keine Strategie für nach 2022“. Viel akutere Probleme haben Auftragnehmer von öffentlichen Bauprojekten, vor allem in Polen, der bei Weitem größten CEE-Volkswirtschaft: Der Staat zahlt im Schnitt 160 Tage zu spät. Die Materialpreise sind nicht indexiert, wodurch bei steigenden Rohstoffkosten der Auftrag rasch zum Verlustgeschäft wird. Die Folge: Die Branche schreibt in der Region rote Zahlen, es gibt immer mehr Pleiten. Auch insgesamt steigt die Zahl der Insolvenzen in Osteuropa seit 2017 an, allerdings vom sehr tiefen Niveau der beiden Jahre davor.
Insgesamt hält Coface-Österreich-Chef Michael Tawrowsky die Region für Geschäftsbeziehungen heimischer Firmen weiter für „stabiler“als andere Schwellenmärkte wie China: „Es ist die sicherere Sache – auch wenn die Zeit gekommen ist, vorsichtiger zu sein.“