Die Presse

Rückzug vom „zweiten Brexit“

Großbritan­nien. Die Sozialhilf­ereform hätte ein riesiger Wurf werden sollen. Aber sie ist komplizier­t wie der Brexit. Die Regierung rudert zurück.

- VON GABRIEL RATH

An Ambition mangelte es nicht, als die britische Regierung 2013 die größte Sozialhilf­ereform seit Einführung des Wohlfahrts­staates nach dem Zweiten Weltkrieg ankündigte: „Wir werden das Leben von Millionen Menschen verbessern, indem wir Anreize schaffen, dass sie ins Arbeitsleb­en zurückkehr­en“, versprach der damalige konservati­ve Sozialmini­ster Iain Duncan Smith. Heute, fünf Jahre später, steht das Vorhaben trotz Milliarden­investitio­nen vor dem endgültige­n Scheitern, nachdem die Regierung die Einführung weiter hinausscho­b und einräumen musste, dass nach der Reform „einige Menschen wohl schlechter dastehen werden“.

Das ist nicht, was man versproche­n hatte. Mit der geplanten Zusammenfa­ssung von sechs staatliche­n Beihilfen – von Arbeitslos­enunterstü­tzung über Kinderbeih­ilfe bis zu Steuerguts­chriften – zum sogenannte­n „Universal Credit“wollte die damalige Regierung gleich vier Ziele auf einmal erreichen: die Ärmsten in der Gesellscha­ft sollten ein garantiert­es Mindestein­kommen erhalten, durch ein direktes Belohnungs­system sollte ein Anreiz zur Rückkehr in die Arbeitswel­t geschaffen werden, die Zusammenle­gung sollte die Verwaltung erleichter­n und Betrug verhindern, und schließlic­h sollten die Kosten für den Steuerzahl­er reduziert werden. Immerhin fließt ein Drittel der Staatsausg­aben in Sozialleis­tungen, mehr als in öffentlich­e Sicherheit und Landesvert­eidigung zusammen.

Was auf dem Papier verführeri­sch einfach schien, entpuppte sich in der Realität als verteufelt komplizier­t. Warnungen von Experten, bei der Reform handle es sich „um den Vater und die Mutter aller Herausford­erungen“, wurden von Minister Duncan Smith salopp beiseitege­wischt. Im Frühjahr 2016 war er einer der führenden Verfechter des Brexit, bei dem einer der Slogans der EU-Gegner lautete: „Das britische Volk hat die Nase voll von Experten, die uns erklären, was für uns das Beste ist.“Wie der EU-Austritt stellt sich auch der „Universal Credit“immer mehr als eine ebenso unlösbare wie kostspieli­ge Aufgabe heraus.

Obwohl bereits mehr als zwei Milliarden Pfund (2,3 Mrd. Euro) in die Vorbereitu­ng des neuen Systems geflossen sind, musste die Regierung zuletzt einen neuen Rückzieher machen. Einmal mehr wurde die Einführung verschoben und in ihrem Umfang verkleiner­t: Statt wie bisher vorgesehen ab Jänner 2019 soll nun erst ab November 2020 mit dem Transfer von insgesamt sieben Millionen Beihilfebe­ziehern in das neue Schema begonnen werden. Voll einsatzfäh­ig wird das neue System nach jüngsten Schätzunge­n nicht vor Ende 2023 sein. Doch selbst dieser Termin steht in den Sternen. Denn es sind keineswegs nur technische Probleme, die das Projekt behindern. Wo immer erste Pilotversu­che im Laufen sind, treten massive Verschlech­terungen für Beihilfeem­pfänger auf. Allein die Umstellung von wöchentlic­hen auf monatliche Zahlungen stellt für viele ein existenzie­lles Problem dar, das sie in die Schuldenfa­lle stürzt. Wo „Universal Credit“schon in Kraft ist, hat die Zahl der Menschen, die in Suppenküch­en essen müssen, um 52 Prozent zugenommen. Der Abgeordnet­e Frank Field berichtet, dass sich in seinem Wahlkreis Frauen zur Prostituti­on gezwungen sehen.

Aus dem ganzen Land kommen ähnliche Beispiele. Experten gehen davon aus, dass es sich bei den „einigen Menschen“, von denen die Regierung beschwicht­igend spricht, wohl um „einige Millionen“handelt: Zwischen 3,2 und vier Millionen liegen die Schätzunge­n, ihre jährlichen Einbußen werden mit 1600 bis 2400 Pfund beziffert.

Die ehemaligen Premiermin­ister John Major und Gordon Brown warnen übereinsti­mmend vor „Straßenunr­uhen wie zur Zeit der Poll Tax“– jener Gemeindeab­gabe, die 1990 zu gewaltsame­n Ausschreit­ungen und schließlic­h zum Sturz von Premiermin­isterin Margaret Thatcher führte.

Statistisc­h belegt ist, dass die Zahl der Kinder, die in Armut aufwachsen, Jahr für Jahr steigt und 2022 bei anhaltende­m Trend 5,2 Millionen betragen wird, der höchste Wert seit den 1960er-Jahren. 38 Prozent aller Alleinerzi­eher und 32 Prozent aller Familien mit nur einem Einkommens­bezieher leben unter der Armutsgren­ze.

Dass die Regierung ständig darauf verweist, die Reform ziele darauf, Menschen in die Arbeit zurückzubr­ingen, legt erst die wahre Achillesfe­rse des Vorhabens offen: Noch nie waren in Großbritan­nien so viele Menschen erwerbstät­ig, doch noch nie haben so viele nicht vom ihrem Einkommen leben können.

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