Rückzug vom „zweiten Brexit“
Großbritannien. Die Sozialhilfereform hätte ein riesiger Wurf werden sollen. Aber sie ist kompliziert wie der Brexit. Die Regierung rudert zurück.
An Ambition mangelte es nicht, als die britische Regierung 2013 die größte Sozialhilfereform seit Einführung des Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg ankündigte: „Wir werden das Leben von Millionen Menschen verbessern, indem wir Anreize schaffen, dass sie ins Arbeitsleben zurückkehren“, versprach der damalige konservative Sozialminister Iain Duncan Smith. Heute, fünf Jahre später, steht das Vorhaben trotz Milliardeninvestitionen vor dem endgültigen Scheitern, nachdem die Regierung die Einführung weiter hinausschob und einräumen musste, dass nach der Reform „einige Menschen wohl schlechter dastehen werden“.
Das ist nicht, was man versprochen hatte. Mit der geplanten Zusammenfassung von sechs staatlichen Beihilfen – von Arbeitslosenunterstützung über Kinderbeihilfe bis zu Steuergutschriften – zum sogenannten „Universal Credit“wollte die damalige Regierung gleich vier Ziele auf einmal erreichen: die Ärmsten in der Gesellschaft sollten ein garantiertes Mindesteinkommen erhalten, durch ein direktes Belohnungssystem sollte ein Anreiz zur Rückkehr in die Arbeitswelt geschaffen werden, die Zusammenlegung sollte die Verwaltung erleichtern und Betrug verhindern, und schließlich sollten die Kosten für den Steuerzahler reduziert werden. Immerhin fließt ein Drittel der Staatsausgaben in Sozialleistungen, mehr als in öffentliche Sicherheit und Landesverteidigung zusammen.
Was auf dem Papier verführerisch einfach schien, entpuppte sich in der Realität als verteufelt kompliziert. Warnungen von Experten, bei der Reform handle es sich „um den Vater und die Mutter aller Herausforderungen“, wurden von Minister Duncan Smith salopp beiseitegewischt. Im Frühjahr 2016 war er einer der führenden Verfechter des Brexit, bei dem einer der Slogans der EU-Gegner lautete: „Das britische Volk hat die Nase voll von Experten, die uns erklären, was für uns das Beste ist.“Wie der EU-Austritt stellt sich auch der „Universal Credit“immer mehr als eine ebenso unlösbare wie kostspielige Aufgabe heraus.
Obwohl bereits mehr als zwei Milliarden Pfund (2,3 Mrd. Euro) in die Vorbereitung des neuen Systems geflossen sind, musste die Regierung zuletzt einen neuen Rückzieher machen. Einmal mehr wurde die Einführung verschoben und in ihrem Umfang verkleinert: Statt wie bisher vorgesehen ab Jänner 2019 soll nun erst ab November 2020 mit dem Transfer von insgesamt sieben Millionen Beihilfebeziehern in das neue Schema begonnen werden. Voll einsatzfähig wird das neue System nach jüngsten Schätzungen nicht vor Ende 2023 sein. Doch selbst dieser Termin steht in den Sternen. Denn es sind keineswegs nur technische Probleme, die das Projekt behindern. Wo immer erste Pilotversuche im Laufen sind, treten massive Verschlechterungen für Beihilfeempfänger auf. Allein die Umstellung von wöchentlichen auf monatliche Zahlungen stellt für viele ein existenzielles Problem dar, das sie in die Schuldenfalle stürzt. Wo „Universal Credit“schon in Kraft ist, hat die Zahl der Menschen, die in Suppenküchen essen müssen, um 52 Prozent zugenommen. Der Abgeordnete Frank Field berichtet, dass sich in seinem Wahlkreis Frauen zur Prostitution gezwungen sehen.
Aus dem ganzen Land kommen ähnliche Beispiele. Experten gehen davon aus, dass es sich bei den „einigen Menschen“, von denen die Regierung beschwichtigend spricht, wohl um „einige Millionen“handelt: Zwischen 3,2 und vier Millionen liegen die Schätzungen, ihre jährlichen Einbußen werden mit 1600 bis 2400 Pfund beziffert.
Die ehemaligen Premierminister John Major und Gordon Brown warnen übereinstimmend vor „Straßenunruhen wie zur Zeit der Poll Tax“– jener Gemeindeabgabe, die 1990 zu gewaltsamen Ausschreitungen und schließlich zum Sturz von Premierministerin Margaret Thatcher führte.
Statistisch belegt ist, dass die Zahl der Kinder, die in Armut aufwachsen, Jahr für Jahr steigt und 2022 bei anhaltendem Trend 5,2 Millionen betragen wird, der höchste Wert seit den 1960er-Jahren. 38 Prozent aller Alleinerzieher und 32 Prozent aller Familien mit nur einem Einkommensbezieher leben unter der Armutsgrenze.
Dass die Regierung ständig darauf verweist, die Reform ziele darauf, Menschen in die Arbeit zurückzubringen, legt erst die wahre Achillesferse des Vorhabens offen: Noch nie waren in Großbritannien so viele Menschen erwerbstätig, doch noch nie haben so viele nicht vom ihrem Einkommen leben können.