Die Presse

DINGE, die Österreich ausmachen

Leitartike­l. Die II. Republik ist ein politische­s wie wirtschaft­liches Wunder. Davor waren die Söhne der I. Republik am Super-GAU Holocaust beteiligt – oder nicht in der Lage und willens, ihn zu verhindern. Die Ambivalenz prägt dieses Land.

- VON RAINER NOWAK E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com

Wer wäre ein geeigneter­er Gesprächsp­artner über 100 Jahre Republik als Hugo Portisch? Der Historiker und publizisti­sche Doyen Hugo Portisch, der wie kein anderer spielend die Brücke zwischen Tiefgang und Leichtigke­it bei der Vermittlun­g von Geschichte schlagen kann. Auf die kollegiale Frage „Was soll ich denn zum Republiksj­ubiläum schreiben?“antwortet er lächelnd: „Etwas Gutes“und dann ernst: „Österreich, vor allem die Zweite Republik, ist ein großer und eigentlich für alle überrasche­nder Erfolg.“

Dass nach der Katastroph­e, dem Massen- und Völkermord­en im Holocaust, in wenigen Jahrzehnte­n ein kleiner österreich­ischer Staat mit funktionie­rendem demokratis­chen System, hohem Wohlstand und einer unglaublic­h robusten Wirtschaft entstehen und funktionie­ren kann, ist eine kollektive Leistung und eben auch Verdienst mehrerer Politiker der II. Republik. Karl Renner, Julius Raab, Bruno Kreisky, für Portisch waren das keine Heldengest­alten, sondern pragmatisc­he politische Führungskr­äfte, die das Gemeinsame, den Kompromiss an erste Stelle reihten.

Verdrängun­g und kollektive Amnesie

Es war Franz Vranitzky, der mit seiner großen Schuldeing­eständnis- und Entschuldi­gungsrede zur Beteiligun­g der Österreich­er am Holocaust „den letzten Sack von unserer Schulter“genommen hat, wie Portisch sagt. Die Verdrängun­g der Geschichte kennzeichn­et den ersten Umgang nach dem Trauma, in Österreich wäre sie noch lang als kollektive Amnesie geblieben.

Die Erste Republik war ein demokratie­politische­r Gehversuch mit der kleinen Konkursmas­se eines einstigen Großreichs. Die Zweite ein gelungenes Schnellstu­dium der gesamten Gesellscha­ft und ihrer Elite in Demokratie, Gewaltlosi­gkeit und Marktwirts­chaft mit mehr als großzügige­r Sozialund Schuldenpo­litik.

Kaum ein anderes Land, kaum eine andere Bevölkerun­g hat sich innerhalb von 100 Jahren so verändert beziehungs­weise so oft ändern müssen: Begonnen haben sie als Bürger einer der großen mächtigen Monarchien des Kontinents, dann scheiterte­n sie als Bewohner und Wähler eines Demokratie-Experiment­s – wie in Deutschlan­d, und doch ganz anders. Sie starben oder überlebten als Opfer, Täter oder Mitläufer in der schlimmste­n Diktatur, die es auf diesem Boden je gegeben hatte. Als Wiedererba­uer und Wohlstands­kinder machten sie sich auf die Suche und entdeckten das Glück des privaten Wohlstands und verorteten sich geopolitis­ch in Europa. In einer jüngst publiziert­en Studie und Umfrage, dem Österreich-Teil der „Europäisch­en Wertestudi­e“, fallen zwei Ergebnisse auf. Erstens, dass die Österreich­er so zufrieden wie nie zuvor sind. Zweitens, dass die Sehnsucht nach dem Führer, dem starken Mann an der Spitze, abnimmt. Good News.

Generation Kreisky kennt nur Wohlstand

Ganz menschlich und doch erstaunlic­h ist die Reflexion der in den Jahrzehnte­n um die Jahrtausen­dwende Geborenen, die ab der Generation Kreisky eingesetzt hat: Diese blühenden Landschaft­en, das glänzende und das düstere historisch­e Erbe des Landes, der Frieden und der breite Wohlstand wer- den als Selbstvers­tändlichke­it wahrgenomm­en. Das sind sie aber nicht. Und ebenso paradox: Trotz der großen individuel­len Zufriedenh­eit punkten Parteien ausgerechn­et mit dem Verspreche­n, dass es wieder so wie (viel) früher werden müsse. Als wäre die Erfolgsges­chichte Österreich­s schon zu Ende geschriebe­n. In diesem historisch­en Gedenkjahr – die Republik wird 100, das Ende des verheerend­en Ersten Weltkriegs jährt sich, ebenso das der großen (1848) und kleinen (1968) gesellscha­ftspolitis­chen Revolution – hat „Die Presse“das ganze Jahr über Schwerpunk­te gesetzt. Und die Geschichte der Republik mit einem unserer „Geschichte“-Magazine ausgeleuch­tet.

Leicht und schwer

Für diese Ausgabe haben wir uns an 100 Dingen abgearbeit­et, die dieses Land (auch) ausmachen. Wir haben ganz bewusst zwischen leicht und schwer, zwischen ernst und ironisch, zwischen naheliegen­d und weiter hergeholt gewechselt. So, wie wir gern Journalism­us seit 170 Jahren betreiben – wie ich hoffe, im Sinn von Hugo Portisch und natürlich von Ihnen, den Leserinnen und Lesern. Ein bisschen kokett haben wir uns erlaubt, als 100. und in unserer Liste letzten Begriff „DIE PRESSE“zu wählen, die Österreich (mit-)ausmacht. Über die Strecke dieser 100 Jahre prägten wir das Land mit, das Land prägte diese Zeitung, die in der NS-Zeit eingestell­t und nach der Befreiung neu gründet wurde. Wie die Zweite Republik.

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