Wonderful Wonderlan
Der große Nachbar. Die Ähnlichkeit zwischen Österreich und sätze zwischen den beiden Nachbarn wachsen. Die Angst vor de
Am ersten Weihnachtstag des schrecklichen Kriegsjahrs 1917 staunten die Leser der „Vossischen Zeitung“nicht schlecht. Denn Hugo von Hofmannsthal hatte für das Berliner Blatt des liberalen Bürgertums feinsäuberlich die Unterschiede zwischen Preußen und Österreich aufgelistet. Der Anhänger der österreichisch-ungarischen Kulturnation, die 1918 mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Gründung der Republik endete, hielt dem Nachbarn im Westen einen wenig schmeichelhaften Spiegel vor. Das war ein mutiges Unterfangen Hofmannsthals, denn die beiden „Waffenbrüder“waren mitten in der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts mehr denn je aufeinander angewiesen. Für den Dichter aus Wien war Preußen schlichtweg „geschaffen, ein künstlicher Bau, von Natur armes Land“. Als Kontrast formulierte Hofmannsthal für seine österreichische Heimat durchaus freundlich: „gewachsen, geschichtliches Gewebe, von Natur reiches Land“.
Mehr als 100 Jahre sind seit der provokanten Analyse Hofmannsthals vergangen. Preußen ist Geschichte. Doch als Keimzelle der Bundesrepublik Deutschland lebt es fort. Berlin wurde nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder Hauptstadt – und nicht Frankfurt, der Geburtsort der deutschen Demokratie von 1848. Das auf eine vergleichsweise kleine Fläche reduzierte Österreich besitzt hingegen mit dem heutigen Wien die Metropole für Mit der EU-Erweiterung und der Heranführung weiterer südosteuropäi- scher Staaten von Serbien bis Albanien erlebt Österreichs Hauptstadt einen beeindru- ckenden Zuwachs an Bevöl- kerung – und an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung.
Die Deutschen hätten nach dem Ende der Berliner Mauer durchaus eine vergleichbare Rolle für Osteuropa und Russland spielen können. Doch mit dem Megaprojekt der Wiedervereinigung war und ist das neue Deutschland viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Die Chance wurde verspielt. Vor 1989 war Österreich nach Frankreich traditionell der engste und wichtigste Nachbar. Das hat sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der EU-Osterweiterung grundlegend geändert. Österreich hat für Deutschland im größeren Europa einen Bedeutungsverlust erlitten. Geblieben ist nur die Zuneigung zum südlichen Nachbarn.
Den zentralen Unterschied zwischen Österreich und Deutschland hatte schon Hugo von Hofmannsthal in seinem Vergleich mit Preußen vor mehr als 100 Jahren richtig erkannt. Er definierte Österreich aus der „Heimatliebe als Zusammenhaltendes“, während in Deutschland die „Staatsgesinnung“als verbindendes Band dominiert. Diese manifestiert sich abseits des folkloristischen Kitschs der Tourismusindustrie immer wieder – sogar auf kuriose Weise. Das Kino in Wien war voll, als vor ein paar Jahren der Dokumentarfilm mit dem unfreiwillig komischen Titel „Österreich: Oben und Unten“lief. In berauschend schönen Bildern lässt der Regisseur Joseph Vilsmaier („Herbstmilch“) seine Kamera über Gletscher, Seen und Täler fliegen, umkreist die Salzburger Burg und den Wiener Stephansdom. Die brachial imposante Musik von Hubert von Goisern vergrößert noch die Magie der filmischen Flugshow. So mancher Besucher im Wiener Kino bekam feuchte Augen. Bei dem Film handelt es sich um nichts anderes als um eine cinematografische Heimatliebe. Wonderful Wonderland Austria.
Die Heimatliebe, die eben schnell ins Kitschige und ins Übertriebene abgleiten kann, macht Österreich im Guten wie im Schlechten aus. Während Deutschland auch im 74. Jahr seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht die Balance in seinem Selbstwertgefühl gefunden hat und noch immer zwischen brutalem Selbsthass und übersteigertem Nationalgefühl nervös hin und her pendelt, ruht Österreich in sich selbst.
Die zwischen München und Hamburg weit verbreitete Ansicht einer großen Ähnlichkeit mit dem rot-weiß-roten Nachbarn ist eine Illusion. Im Kern hatte das schon Hofmannsthal hellseherisch erkannt. Auch wenn zwischen Vorarlberg und dem Burgenland sprachlich, kulturell und wirtschaftlich Welten liegen, verstehen sich alle Einwohner – gerade wenn sie (oft vorübergehend) nach Berlin oder München ausgewandert sind – als unbedingte Österreicher.
Ein Westdeutscher bleibt hingegen ein Westdeutscher, ein Ostdeutscher ein Ostdeutscher – selbst wenn er in den Bregenzerwald oder in die Bucklige Welt emigriert. Das für Österreich so typische „geschichtliche Gewebe“(Hofmannsthal) wurde im wiedervereinigten Deutschland zerstört. Fremdenfeindliche Randale wie zuletzt in Chemnitz verstärken das permanente Gefühl der Spaltung zwischen Ost und West. Die Verständnislosigkeit hüben und drüben ist groß.