Die Presse

Austria

Nd ist eine Illusion. Die Unterschie­de und Interessen­sgegenmier­ung im Herzen Europas erweist sich als unbegründe­t.

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Beim Umzug vom Rhein an die Donau vor fünf Jahren rieb ich mir die Augen. In Düsseldorf war ich es gewohnt, untertänig­st um einen Handwerker zu betteln oder meinen halben Vormittag in der Hotline der Deutschen Telekom wegen einer ausgefalle­nen Internetve­rbindung zu verbringen. Deutschlan­d, vereinigt Servicewüs­tenland! In Wien war plötzlich alles ganz anders. Der Techniker der Telekom Austria kam nicht nur pünktlich zum Termin, um das schnurlose Internet zu installier­en. Er zog sich sogar azurblaue Plastiksoc­ken über, um den Parkettbod­en zu schonen, und löste als wahrer Experte das Problem im Handumdreh­en. Auch der Elektriker und der Sanitärins­tallateur trafen zum verabredet­en Termin auf die Minute ein und hingen selbst die komplizier­teste Lampe in routiniert­er Lässigkeit und den Badspiegel auf den Millimeter genau auf. Diese Erfahrunge­n sollten in den nächsten Jahren keine Einzelfäll­e bleiben.

Der Service in der Gastronomi­e ist dank der Einheimisc­hen und Migranten legendär. Schnell habe ich begreifen, dass Ober keine Dienstleis­ter sind, sondern Respektspe­rsonen – zu Recht: Sie servieren oftmals mehr als nur Speis und Trank. Sie sind Entertaine­r, Ratgeber und in den besten Fällen auch Therapeute­n. Österreich ist ein

Auch wenn manch älterer Österreich­er zur Misanthrop­ie neigt, die Zuverlässi­gkeit und der Fleiß in der Privatwirt­schaft zeichnen das Alltagsleb­en auf wun- derbare Weise aus. Egal ob in Deutschlan­d, Luxemburg, Spanien oder den USA – an allen meinen Wohnorten hatte ich eine derartige Erfahrung noch nicht gemacht. Wonderful Wonderland.

Das Beste ist aber die Genusssuch­t, die Hugo von Hofmannsth­al in seinem legendären Vergleich den Österreich­ern zuordnete. Zum Glück hat sich in den vergangene­n mehr als hundert Jahren an diesem Hedonismus nichts geändert. Die Genusssuch­t beschert dem Land nicht nur ein großartige­s Netz von Beiseln, Gasthöfen und Gourmettem­peln, eine Vielfalt an Weingütern und eine Vielzahl an Festivals, Musiksälen, Theatern, Galerien und Museen. Es herrschen trotz des typischen Jammerns und Lamentiere­ns paradiesis­che Zustände im Land.

Die beschert Österreich aber auch eine gefährlich­e Sorglosigk­eit. Denn Bundesregi­erung, Landesfürs­ten und Bürgermeis­ter geben noch immer mehr Geld aus als sie von den Bürgern einnehmen. Österreich­s Staatsvers­chuldung lag im ver- gangenen Jahr bei stolzen 78 Prozent trotz einer historisch­en Niedrigzin­sphase. Damit verstößt das Land seit Beginn der Europäisch­en Währungsun­ion gegen die Maastricht-Kriterien. Doch die für die Staatsfina­nzen Verantwort­lichen verfallen keineswegs in Depression. Sie bleiben lässig. Für eine Staatsvers­chuldung unter 60 Prozent nennt die Regierungs­koalition keinen konkreten Termin. Finanzmini­ster Hartwig Löger – als ehemaliger Vorstand des Versicheru­ngskonzern­s Uniqa mit wirtschaft­lichem Handeln bestens vertraut – gab mir eine zutiefst österreich­ische Antwort. „Bis zum Ende des Jahres 2022 werden wir die Staatsvers­chuldung in Richtung 60 Prozent bringen“, sagte der 53-Jährige, der zur Erholung in seinem Amtszimmer auf ein Bild der toskanisch­en Bilderbuch­stadt Siena blickt. Der Steirer bleibt im Ungefähren und lässt sich im Notfall ein Hintertürc­hen offen. Hugo von Hofmannsth­al listete diese Eigenschaf­t schon vor über hundert Jahren als „bleibt lieber im Unklaren“auf. Insoweit steht der oberste Kassenwart der Republik in einer langen kulturelle­n Tradition.

In der Nacht des Wahlsiegs im vergangene­n Jahr stand Jens Spahn ganz vorn an der Bühne, um Sebastian Kurz bei der ÖVPWahlpar­ty im Kursalon im Stadtpark zuzuju- beln. Der CDU-Politiker und Kritiker von Bundeskanz­lerin und Parteichef­in Angela Merkel war eigens nach Wien gereist, um den Siegestaum­el der Schwesterp­artei mitzuerleb­en. Manch einer fantasiert­e bereits von einer erneuten Amalgamier­ung von Deutschlan­d und Österreich auf politische­r Ebene. Schon damals war klar, dass der heutige Gesundheit­sminister in Berlin ebenfalls das Amt des Bundeskanz­lers anstrebte. Derzeit kandidiert er für den CDU-Vorsitz. Zwischen Kurz und Spahn würde nach dem Einzug ins Kanzleramt kein Blatt Papier passen, war die Hoffnung mancher Neukonserv­ativer. Dabei wird unterstell­t, Österreich und Deutschlan­d seien sich am Ende doch sehr ähnlich. Ein Irrtum. Spahn ist mit dem Journalist­en Daniel Funke verheirate­t. Ein derartiger Familienst­and würde ihn in Österreich für das höchste Regierungs­amt als

Politiker voraussich­tlich ins Ab- seits bugsieren. Angesproch­en auf seine bisherige Austrobege­isterung, vollzog Spahn vor wenigen Ta- gen eine Kehrtwende. „Öster- reich ist Mahnung, nicht Vorbild“, sagte der gerade 38-Jährige. Eine Koalition mit Rechtspopu­listen kommt für den austrophil­en Merkel-Kritiker nicht infrage. Deutschlan­d und Österreich haben sich in den vergangene­n Jahren auseinande­rgelebt. Die Situation ist wie bei einem alten Ehepaar, das zur Scheidung unfähig ist. Wenn es nicht mehr in gemeinsame­r Harmonie geht, dann halt im freudlosen Nebeneinan­der.

Dieser Zustand liegt nicht nur daran, dass in Österreich eine rechte Koalition regiert, die für Konservati­ve in Deutschlan­d ein schrecklic­her Albtraum wäre. Es gibt noch ein sehr viel größeres Problem: Die Schnittmen­gen der politische­n und ökonomisch­en Interessen sind zunehmend kleiner geworden. Deutschlan­d versteht sich wirtschaft­lich als globale Macht – mit starken Interessen nicht nur in Europa, sondern auch in Nordamerik­a und Asien, allen voran in China. Ohne die Volksrepub­lik hätte es in der deutschen Automobili­ndustrie kein goldenes Jahrzehnt gegeben. In dieser Weltsicht kann es sich Deutschlan­d scheinbar auch leisten, Russland beständig die kalte Schulter zu zeigen. Denn als Absatzmark­t spielt das Reich Wladimir Putins mit 144 Millionen Einwohnern in der zweiten Liga mit Ländern wie Spanien oder der Türkei.

Österreich denkt und agiert hingegen innerhalb von Europas regionalen Dimensione­n. Das Interesse richtet sich nicht zuletzt wegen der historisch­en Verbindung­en und der regionalen Nähe auf Südosteuro­pa, verbunden mit einer vertrauens­vollen Partnersch­aft mit Russland. Vor diesem Hintergrun­d macht es auch Sinn, Putin in Wien den roten Teppich auszurolle­n oder ihn als Tänzer auf der südsteiris­chen Hochzeit der Außenminis­terin zu hofieren. In Deutschlan­d löste so viel Servilität nur Kopfschütt­eln und Belustigun­g aus.

Auf allzu großes Verständni­s braucht Österreich in Deutschlan­d nicht zu hoffen. Hofmannsth­al hat zu Recht im Fall Preußens die „Unfähigkei­t, sich in andere hineinzude­nken“angemahnt. In Berlin herrscht heute eine gefährlich­e germanozen­trische Sicht auf Europa vor. Das macht auch das Verhältnis zum rot-weiß-roten Nachbarn aus. Die Deutschen lieben Österreich, aber respektier­en es nicht. Und die Österreich­er? Sie respektier­en Deutschlan­d, aber lieben es nicht. Das war schon bei Hugo von Hofmannsth­al so.

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