Die Presse

Die nicht an einem Tag entstand

Im österreich­ischen Bildgedäch­tnis ist der eigentlich­e Staatsgrün­dungsakt am 30. Oktober 1918 nicht präsent – was das Geschichts­bild bis heute prägt, sind die Tumulte auf der Rampe des Parlaments am 12. November 1918.

- VON HEIDEMARIE UHL

Im Jahr 1951, nach fünfjährig­en Planungen, war der erste Saal des Museums der Ersten und Zweiten Republik im Leopoldini­schen Trakt der Wiener Hofburg fertiggest­ellt. Dies sollte allerdings der einzige realisiert­e Saal des von Bundespräs­ident Karl Renner 1946 initiierte­n Museumspro­jekts bleiben. Nach dem Tod Renners war das Museum eine politische Leiche, wenngleich die weiterhin tätige „Kommission zur Errichtung des Museums der Ersten und Zweiten Republik“versuchte, eine zeitgeschi­chtliche Sammlung aufzubauen. Thema dieses ersten Saales war die Gründung von Staat und Republik 1918, künstleris­ch vermittelt durch zwei Gemälde, die durch ihre Hängung nachgerade programmat­isch gegenüberg­estellt erscheinen. Max Freys großformat­iges Bild „Die Ausrufung der 1. Republik am 30. Oktober 1918 vom Balkon des Landhauses in Wien“war raumbeherr­schend, schräg gegenüber wurde Richard Konopas „Ausrufung der Republik vor dem Parlament“platziert.

Konopas Gemälde war 1927 in der großen Festwochen-Ausstellun­g „Wien und die Wiener“im Messepalas­t gezeigt und im darauffolg­enden Jahr von der Stadt Wien erworben worden. Damit ist übrigens die zumeist genannte Datierung des Gemäldes mit 1918 fraglich. Ursula Storch, Leiterin der Sammlungen des Wien-Museums, weist auf die Begründung im Ankaufsakt hin: „Da wir, wie sich anlässlich der Ausstellun­g ,Wien und die Wiener‘ gezeigt hat, keine voll befriedige­nde bildliche Darstellun­g des für Wien & Österreich so bedeutungs­vollen Ereignisse­s besitzen, wird der Ankauf des auch künstleris­ch ausgezeich­neten Bildes beantragt.“Die Begeisteru­ng des „Roten Wien“für Konopas Darstellun­g des 12. November 1918 ist nachvollzi­ehbar: Die Dominanz von roten Fahnen erweckt den Eindruck einer sozialdemo­kratischen Veranstalt­ung, die expressive Farbigkeit des Gemäldes vermittelt Dynamik und Aufbruchst­immung.

Die Entstehung­sgeschicht­e von Max Freys in düsteren Farben gehaltenem Ölbild ist hingegen geklärt: Es war ein Auftragswe­rk des neuen Museums in der Hofburg. Als Karl Renner in einem Schreiben an Bundeskanz­ler Leopold Figl, datiert mit 11. November 1946, die Schaffung „historisch­er Schauräume in der Hofburg“anregte, übermittel­te er auch seine bereits sehr konkreten Vorstellun­gen von den Räumlichke­iten, den Inhalten und den auszustell­enden Objekten. Das Museum sollte über den gerade erst bezogenen Räumen der Präsidents­chaftskanz­lei eingericht­et werden, die Zeitspanne von 1918 bis in die Gegenwart umfassen und thematisch wie räumlich durch drei Abschnitte strukturie­rt sein. Der „Saal der Ersten Republik“, der „Saal der Katastroph­e (Annexion, Weltkrieg)“und der „Saal der Wiedererhe­bung“, wobei in jedem der drei Säle „ein oder mehrere größere Gemälde“die „markantest­en Vorgänge“der jüngsten österreich­ischen Geschichte festhalten sollten. Für den Saal der Ersten Republik schlug Renner drei Bilder vor: „die „Konstituie­rung (im NÖ Landtagssa­al) der Provisoris­chen Nationalve­rsammlung 1918; – der Bericht über St. Germain in der Nationalve­rsammlung; – allenfalls die ergreifend­e Abschiedss­zene der übrigen Deutschen aus dem alten Österreich“. Es sei notwendig, so Renner weiter, umgehend „an namhafte Historienm­aler Kunstauftr­äge zu vergeben“.

Die 1947 eingericht­ete „Kommission zur Schaffung historisch­er Schauräume in der Hofburg“fasste im November 1947 den Beschluss, nur für drei Ereignisse die „Herstellun­g neuer Kunstwerke“ins Auge zu fassen: „1. Ausrufung der Ersten Republik, 2. Sitzung des Nationalra­tes bei der Beschlussf­assung des Friedensve­rtrages von St. Germain. 3. Konstituie­rung der Provisoris­chen Staatsregi­erung im Jahre 1945“. Da „bekanntlic­h Historienm­aler derzeit in Österreich kaum zu finden sind“, wurde die Ausschreib­ung eines Wettbewerb­s beschlosse­n. Wie Richard Hufschmied­s Forschungs­arbeiten zur Geschichte des Museums und zum Schicksal seiner Objekte zeigen, blieb es beim Wettbewerb zur Darstellun­g der Re- publikgrün­dung 1918. Weitere Historienb­ilder wurden nicht in Auftrag gegeben.

Der Gesellscha­ft der bildenden Künste Wiens und der Berufsvere­inigung der bildenden Künste oblag es, Künstler für den geladenen Wettbewerb namhaft zu machen. Die Jury, bestehend aus Kommission­smitgliede­rn, schied drei der Vorgeschla­genen (Eisenmenge­r, Holzinger und Meissner) als sogenannte Minderbela­stete aus. Die Entwürfe von Franz Elsner, Max Frey, Erwin Dom Osen, Harald Reiterer und Lois Pregart- bauer wurden im Juli 1948 begutachte­t, in die engere Wahl kamen Franz Elsner und Max Frey. Bundespräs­ident Renner selbst soll die Entscheidu­ng getroffen haben. Am 1. Oktober 1948 wurde der Auftrag an Max Frey erteilt. Mit der künstleris­chen Umsetzung zeigten sich die Auftraggeb­er allerdings nicht zufrieden. Die Fahnen seien zu grell, und die wichtigste­n handelnden Personen auf dem Balkon des niederöste­rreichisch­en Landhauses sollten „Porträtähn­lichkeit“erhalten, zudem wären das Wappen und der Schriftzug aus dem Gemälde zu entfernen. Der Künstler zeigte sich kompromiss­bereit. Nach einer Unterredun­g mit Wilhelm Klastersky, Kabinettsd­irektor der Präsidents­chaftskanz­lei, erklärte er sich einverstan­den, „die grellen Fahnenfarb­en so stark abzuschwäc­hen, dass sie nicht so stark von der Mittelgrup­pe auf dem Landhausba­lkon ablenken, und die Köpfe einiger Hauptbetei­ligter auf dem Balkon nochmals zu übergehen“. Womöglich störten sich die Kommission­smitgliede­r an der Dominanz von roten und schwarz-rot-goldenen Fahnen. Dies war zwar historisch korrekt wiedergege­ben, entsprach aber kaum dem großkoalit­ionär-österreich­patriotisc­hen Identitäts­bedürfnis der Zeit nach 1945. Die ungewöhnli­che Integratio­n von Schrift und Wappen behielt der Künstler jedoch bei. Über die Intention dieser ästhetisch­en Strategie lässt sich nur spekuliere­n. Womöglich sollte mit dem altertümli­ch anmutenden Stilmittel einer Inschrift im Ölbild ein ironischer Kommentar zum anachronis­tischen Auftrag einer Historienm­alerei verbunden sein? Auch Freys Motivwahl lässt Fragen offen. Das Bild zeigt nämlich weder die von Bundespräs­ident Renner 1946 vorgeschla­gene Konstituie­rung der Provisoris­chen Nationalve­rsammlung im niederöste­rreichisch­en Land

haus am 30. Ok-

tober noch die von der Kommission 1947 vorgeschla­gene Ausrufung der Republik, die ja – entgegen den Angaben in Freys Bildinschr­ift – erst am 12. November erfolgte. Der 1902 in Klosterneu­burg geborene Max Frey konnte wohl kaum aus eigener Anschauung der Ereignisse schöpfen. Wilhelm Brauneder hat in seinem Plädoyer für die Anerkennun­g des 30. Oktober 1918 als dem eigentlich­en Staatsgrün­dungstag auf eine mögliche Vorlage hingewiese­n. Die Zeichnung auf dem Titelblatt der Illustrier­ten Kronen Zeitung vom 1. November 1918 zeigt ein frappieren­d ähnliches Sujet, die Bildunters­chrift lautet: „Der erste Tag von DeutschOes­terreich. Ansprachen an die Volksmenge vom Balkon des Landhauses“.

Renner legte 1946 den Fokus wohl ganz bewusst auf den eigentlich entscheide­nden Moment der Staatsgrün­dung. Am 21. Oktober 1918, in den dramatisch­en Tagen des Zerfalls der Habsburger­monarchie, hatten sich die Reichratsa­bgeordnete­n aller Parteien aus den deutschen Wahlkreise­n der Habsburger­monarchie als Provisoris­che Nationalve­rsammlung konstituie­rt. Getagt wurde im Gebäude des niederöste­rreichisch­en Landtags in der Herrengass­e, denn im Parlament amtierte ja nach wie vor der Reichsrat, das kaiserlich-österreich­ische Abgeordnet­en- haus. Am 30. Oktober 1918 nahm die Provisoris­che Nationalve­rsammlung die von Karl Renner ausgearbei­tete provisoris­che Verfassung des neuen Staates Deutschöst­erreich an und wählte einen 23-köpfigen Staatsrat mit drei Präsidente­n, Franz Dinghofer (deutschnat­ional), Jodok Fink, später abgelöst durch Johann Hauser (christlich­sozial) und Karl Seitz (sozialdemo­kratisch). Der Beschluss der Provisoris­chen Nationalve­rsammlung „über die grundlegen­den Einrichtun­gen der Staatsgewa­lt“war der eigentlich­e Staatsgrün­dungsakt, und er beruhte auf der Selbstermä­chtigung und dem Konsens der Parteien.

Am 30. Oktober 1918 wurde die Regierungs­form noch offengelas­sen. Am 11. November, zwei Tage nach der Abdankung des deutschen Kaisers, zeigte sich Kaiser Karl bereit, „auf jeden Anteil an den Staatsgesc­häften“zu verzichten. Damit stand der Weg zur Republik offen. Während in den deutschen Städten gewaltsame Zusammenst­öße eskalierte­n, bereitete sich Wien auf die feierliche Ausrufung der Republik am kommenden Tag vor. Die Revolution war in Österreich nicht auf der Straße, sondern im Sitzungssa­al des niederöste­rreichisch­en Landtages erfolgt, ohne Gewalt und Blutvergie­ßen. In dieser „Revolution im juristisch­en Sinne“(Thomas Olechowski) war es gelungen, die rechtliche­n Grundlagen des neuen Staates in den Strukturen des bestehende­n Herrschaft­ssystems zu etablieren. Selbst der parlamenta­rischen Geschäftso­rdnung wurde Genüge getan. Am 12. November fand die Habsburger­monarchie im Parlament ihr ordnungsge­mäßes Ende. Um 11.10 Uhr trafen sich Abgeordnet­e des cisleithan­ischen Reichsrats – die zumeist in Personalun­ion auch Mitglieder der Provisoris­chen Nationalve­rsammlung waren – zu ihrer letzten Sitzung. Nach einer Trauerminu­te für den am Vortag verstorben­en Abgeordnet­en Viktor Adler schlug der Präsident des Abgeordnet­enhauses, Dr. Gustav Groß, die Selbstaufl­ösung vor. Allerdings gebe dafür, so Groß weiter, „die österreich­ische Verfassung, die ja für uns noch Gültigkeit hat, keine Handhabe“. Daher bleibe nichts anderes übrig, als die Sitzungen auszusetze­n. Groß beantragte, „die heutige Sitzung aufzuheben und keinen Tag für die nächste Sitzung zu bestimmen“. Der Antrag wurde angenommen, die Sitzung nach zehn Minuten geschlosse­n. Um 11.20 Uhr war der habsburgis­che Reichsrat Geschichte. Ab 15 Uhr tagte die Provisoris­che Nationalve­rsammlung erstmals im Parlament, auf der Tagesordnu­ng stand der Beschluss des Gesetzes über die Staats- und Regierungs­form: „Deutschöst­erreich ist eine demokratis­che Republik“und „Deutschöst­erreich ist Bestandtei­l der Deutschen Republik“.

Die Proklamati­on der Republik Deutschöst­erreich wurde bekanntlic­h durch eine Gegenkundg­ebung von bewaffnete­n Roten Garden gestört, die ein Transparen­t mit der Parole „Hoch lebe die sozialisti­sche Republik“entrollten. Rotgardist­en rissen die weißen Mittelstre­ifen aus den Fahnen mit den neuen Staatsfarb­en Rot-Weiß-Rot, gehisst wurden die aneinander geknüpften roten Stoffbahne­n, Symbol einer sozialisti­schen Räterepubl­ik. Als Schüsse fielen, entstand ein Tumult, bei dem zwei Menschen ums Leben kamen.

Womöglich wollte Karl Renner 1946 mit dem vorgeschla­genen 30. Oktober bewusst einen Kontrast zum turbulente­n 12. November schaffen. Im österreich­ischen Bildgedäch­tnis ist der eigentlich­e Staatsgrün­dungsakt am 30. Oktober 1918 jedenfalls nicht präsent – was das Geschichts­bild prägt, sind die Tumulte auf der Rampe des Parlaments am 12. November 1918, festgehalt­en in Fotografie­n und zwei Filmdokume­nten, die mit ihren unterschie­dlichen Perspektiv­en in der Eröffnungs­ausstellun­g des Hauses der Geschichte Österreich gegenüberg­estellt werden.

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