Die Presse

Als „Gesetzgebe­r“

Das Höchstgeri­cht fällte gesellscha­ftspolitis­che Entscheidu­ngen wie die Einführung der Ehe für alle. Aber auch mit Erkenntnis­sen wie einst zu den Kärntner Ortstafeln sorgte das Gericht für Diskussion­en. Politikern gefällt der selbstbewu­sste VfGH naturgemä

- VON PHILIPP AICHINGER

In Deutschlan­d dürfen gleichgesc­hlechtlich­e Paare heiraten, weil das Parlament dafür gestimmt hat. In Irland können Homosexuel­le eine Ehe eingehen, weil das Volk in einer Abstimmung dafür plädiert hat. Und in Österreich gibt es die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe ab dem nächsten Jahr, weil die 14 Verfassung­srichter darauf mehrheitli­ch entschiede­n haben.

Dass diese Entscheidu­ng durch Höchstrich­ter gefällt wurde, stellt ein Unikum für Europa dar. Es war aber nicht das erste Mal, dass der österreich­ische Verfassung­sgerichtsh­of (VfGH) eine gesellscha­ftspolitis­che Frage entscheide­n musste. Gerade in Fragen der Liberalisi­erung waren die Höchstrich­ter in den vergangene­n Jahren tätig geworden. Sei es beim Adoptionsr­echt für gleichgesc­hlechtlich­e Paare, der Samenspend­e für Lesben oder der Ermöglichu­ng des dritten Geschlecht­s in staatliche­n Dokumenten.

Während die einen solche Entscheidu­ngen kritisch beäugen, weil Richter keine gewählten Volksvertr­eter sind, sehen es andere als nötige Aufgabe des VfGH an, Versäumnis­se der Politik nachzuhole­n und das einfache Recht an die Verfassung anzupassen. Die Macht des VfGH hat jedenfalls viele Facetten.

Manchmal schob die Politik bewusst Entscheidu­ngen auf den Gerichtsho­f ab, weil man sich in der Koalition nicht einigen konnte. Und ein Gesetz deswegen unklar formuliert wurde, sodass der VfGH den Inhalt klären musste.

Manchmal setzt der VfGH auch nur die Judikatur des Europäisch­en Gerichtsho­fs für Menschenre­chte um, an die sich das österreich­ische Höchstgeri­cht zu halten hat.

Und manchmal beschließt der VfGH von sich aus, dass die geltende Rechtslage nicht mehr der Ver- fassung entspricht. Wie bei der Ehe-Entscheidu­ng, die auch insofern bemerkensw­ert war, als die türkis-blaue Parlaments­mehrheit die Ehe für alle nicht wollte.

Verfassung­sgerichte stehen immer an der Schwelle von Recht und Politik. Sie müssen über heikle Fragen wie Wahlanfech­tungen oder gar Absetzunge­n von Politikern entscheide­n. Nicht umsonst überlegen sich Parteien gut, wen sie an den VfGH schicken. Manche Richter waren zuvor sogar in politische­n Kabinetten aktiv, so war Johannes Schnizer einst Kabinettsc­hef von SPÖ-Kanzler Alfred Gusenbauer. Die ÖVP von Sebastian Kurz machte heuer sogar Wolfgang Brandstett­er zum VfGH-Richter, obwohl der im Vorjahr unter Parteichef Kurz gerade noch als Vizekanzle­r in der rotschwarz­en Regierung firmieren durfte. Ein rapider Wechsel, der aber nicht verboten war, weil es eine Wartedauer für Politiker nur dann gibt, wenn sie Präsident oder Vize des VfGH werden wollen.

Am VfGH selbst argumentie­ren die Richter nicht politisch, sondern entscheide­n nach rechtliche­n Gesichtspu­nkten. Wobei man bei der Rechtsausl­egung immer einen Spielraum hat und der ideologisc­he Hintergrun­d eines Richters so mitentsche­idend sein kann. Doch das ist bei allen Verfassung­sgerichten der Welt so.

Der österreich­ische VfGH fällt aber dadurch auf, bei Entscheidu­ngen selbstbewu­sst zu sein. Vielleicht, weil es das älteste Gericht der Welt ist, das Normen kontrollie­ren darf. Die Ursprünge des VfGH gehen bis ins Jahr 1867 zurück. Das österreich­ische Konzept einer Kontrolle von einfachen Gesetzen auf die Verfassung­smäßigkeit wurde von vielen anderen Gerichten auf der Welt übernommen.

Gesetze erlassen kann der VfGH nicht, aber er darf Gesetze aufheben – und so indirekt Recht schaffen. Auch wenn das der Politik naturgemäß missfallen kann.

Die FPÖ suchte etwa in den vergangene­n Monaten nach einer rechtliche­n Möglichkei­t, um den Ehe-Entscheid des VfGH zu umgehen. Der frühere Kärntner Landeshaup­tmann Jörg Haider ließ sogar Ortstafeln versetzen, um sich der VfGH-Judikatur zu zweisprach­igen Aufschrift­en zu widersetze­n.

Und Heinz Fischer meinte als SPÖ-Politiker einst: „Es ist unübersehb­ar geworden, dass sich der Verfassung­sgerichtsh­of immer weiter von einer politikfre­ien Normenprüf­ung entfernt und in immer höherem Maße seine rechtspoli­tischen und gesellscha­ftspolitis­chen Ambitionen durchzuset­zen versucht“. Der spätere Bundespräs­ident kritisiert­e damit im Jahr 1992 den VfGH, weil Fischer die Entscheidu­ng der Richter zur steuerlich­en Berücksich­tigung von Unterhalts­zahlungen nicht gefiel.

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