Als „Gesetzgeber“
Das Höchstgericht fällte gesellschaftspolitische Entscheidungen wie die Einführung der Ehe für alle. Aber auch mit Erkenntnissen wie einst zu den Kärntner Ortstafeln sorgte das Gericht für Diskussionen. Politikern gefällt der selbstbewusste VfGH naturgemä
In Deutschland dürfen gleichgeschlechtliche Paare heiraten, weil das Parlament dafür gestimmt hat. In Irland können Homosexuelle eine Ehe eingehen, weil das Volk in einer Abstimmung dafür plädiert hat. Und in Österreich gibt es die gleichgeschlechtliche Ehe ab dem nächsten Jahr, weil die 14 Verfassungsrichter darauf mehrheitlich entschieden haben.
Dass diese Entscheidung durch Höchstrichter gefällt wurde, stellt ein Unikum für Europa dar. Es war aber nicht das erste Mal, dass der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) eine gesellschaftspolitische Frage entscheiden musste. Gerade in Fragen der Liberalisierung waren die Höchstrichter in den vergangenen Jahren tätig geworden. Sei es beim Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare, der Samenspende für Lesben oder der Ermöglichung des dritten Geschlechts in staatlichen Dokumenten.
Während die einen solche Entscheidungen kritisch beäugen, weil Richter keine gewählten Volksvertreter sind, sehen es andere als nötige Aufgabe des VfGH an, Versäumnisse der Politik nachzuholen und das einfache Recht an die Verfassung anzupassen. Die Macht des VfGH hat jedenfalls viele Facetten.
Manchmal schob die Politik bewusst Entscheidungen auf den Gerichtshof ab, weil man sich in der Koalition nicht einigen konnte. Und ein Gesetz deswegen unklar formuliert wurde, sodass der VfGH den Inhalt klären musste.
Manchmal setzt der VfGH auch nur die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte um, an die sich das österreichische Höchstgericht zu halten hat.
Und manchmal beschließt der VfGH von sich aus, dass die geltende Rechtslage nicht mehr der Ver- fassung entspricht. Wie bei der Ehe-Entscheidung, die auch insofern bemerkenswert war, als die türkis-blaue Parlamentsmehrheit die Ehe für alle nicht wollte.
Verfassungsgerichte stehen immer an der Schwelle von Recht und Politik. Sie müssen über heikle Fragen wie Wahlanfechtungen oder gar Absetzungen von Politikern entscheiden. Nicht umsonst überlegen sich Parteien gut, wen sie an den VfGH schicken. Manche Richter waren zuvor sogar in politischen Kabinetten aktiv, so war Johannes Schnizer einst Kabinettschef von SPÖ-Kanzler Alfred Gusenbauer. Die ÖVP von Sebastian Kurz machte heuer sogar Wolfgang Brandstetter zum VfGH-Richter, obwohl der im Vorjahr unter Parteichef Kurz gerade noch als Vizekanzler in der rotschwarzen Regierung firmieren durfte. Ein rapider Wechsel, der aber nicht verboten war, weil es eine Wartedauer für Politiker nur dann gibt, wenn sie Präsident oder Vize des VfGH werden wollen.
Am VfGH selbst argumentieren die Richter nicht politisch, sondern entscheiden nach rechtlichen Gesichtspunkten. Wobei man bei der Rechtsauslegung immer einen Spielraum hat und der ideologische Hintergrund eines Richters so mitentscheidend sein kann. Doch das ist bei allen Verfassungsgerichten der Welt so.
Der österreichische VfGH fällt aber dadurch auf, bei Entscheidungen selbstbewusst zu sein. Vielleicht, weil es das älteste Gericht der Welt ist, das Normen kontrollieren darf. Die Ursprünge des VfGH gehen bis ins Jahr 1867 zurück. Das österreichische Konzept einer Kontrolle von einfachen Gesetzen auf die Verfassungsmäßigkeit wurde von vielen anderen Gerichten auf der Welt übernommen.
Gesetze erlassen kann der VfGH nicht, aber er darf Gesetze aufheben – und so indirekt Recht schaffen. Auch wenn das der Politik naturgemäß missfallen kann.
Die FPÖ suchte etwa in den vergangenen Monaten nach einer rechtlichen Möglichkeit, um den Ehe-Entscheid des VfGH zu umgehen. Der frühere Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider ließ sogar Ortstafeln versetzen, um sich der VfGH-Judikatur zu zweisprachigen Aufschriften zu widersetzen.
Und Heinz Fischer meinte als SPÖ-Politiker einst: „Es ist unübersehbar geworden, dass sich der Verfassungsgerichtshof immer weiter von einer politikfreien Normenprüfung entfernt und in immer höherem Maße seine rechtspolitischen und gesellschaftspolitischen Ambitionen durchzusetzen versucht“. Der spätere Bundespräsident kritisierte damit im Jahr 1992 den VfGH, weil Fischer die Entscheidung der Richter zur steuerlichen Berücksichtigung von Unterhaltszahlungen nicht gefiel.