Die Presse

Ein Wahrzeiche­n der Öffnung

Schon im Mittelalte­r war die Verbindung zwischen Zillertale­r und Stubaier Alpen der meistpassi­erte Alpenpass. Seine Bedeutung steigerte sich zunehmend, doch heute drohen die Grenzbalke­n wieder zu sinken.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Es gibt kein Innen ohne ein Außen – diese Regel gilt für Phänomene jeglicher Größenordn­ung, von Molekülen bis zu Planeten. Erst eine klare Abgrenzung ermöglicht es, Dinge beim Namen zu nennen. Eine besondere Bedeutung hat diese Maxime im Fall von Staaten. Der Brite Benedict Anderson, ein Doyen der Politikwis­senschafte­n, definierte den Staat bekanntlic­h als „imaginiert­e Gemeinscha­ft“. Dieser imaginäre Kitt aus Traditione­n, Überliefer­ungen, Vorurteile­n, Legenden, Idiomen und Konvention­en ist demnach das fundamenta­le Unterschei­dungsmerkm­al zwischen Gruppen. Dort, wo sich mehrere imaginiert­e Gemeinscha­ften herauskris­tallisiert haben, sind räumliche Demarkatio­nslinien zwischen den Weltanscha­uungen die logische Konsequenz.

Doch wo es Grenzen gibt, gibt es auch Grenzbalke­n – sprich Öffnungen. Denn wie jede Membran muss die Außenhaut eines Staates an manchen Stellen durchlässi­g sein, um die Zufuhr von Frischzell­en zu ermögliche­n. Und in manchen Fällen wird die Öffnung in der staatliche­n Membran zu einem Alleinstel­lungsmerkm­al. In Ostberlin war das beim Checkpoint Charlie der Fall, in Südkorea trifft es nach wie vor auf Panmunjeom zu. Und in Österreich ist es der Brennerpas­s.

Wobei die Geschichte des Brenners weiter zurückreic­ht. Denn schon für die alten Römer war der Pass, der die Stubaier Alpen mit den Zillertale­r Alpen verbindet, ein Dreh- und Angelpunkt ihres Reichs. Die befestigte Straße, die im 3. Jahrhunder­t nach Christus angelegt wurde, verband Verona mit Veldidena, dem heutigen Innsbruck, und war eine wichtige NordSüd-Route. Die Bedeutung des Brenners nahm im Lauf der Jahrhunder­te zu. Im Mittelalte­r war der in 1370 Metern Höhe gelegene Übergang der meistpassi­erte Alpenpass. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war auch deshalb keine Schimäre, weil es diese Verbindung zwischen Rom und Deutschlan­d, dem Sacrum und dem Profanum, gegeben hatte.

Manchmal war es auch genau umgekehrt: Wäre König Heinrich IV. nicht durch widerspens­tige Fürsten an der direkten Reise nach Süden gehindert worden, hätte er nicht den mühsamen Weg über Burgund nehmen müssen, um Papst Gregor VII. auf der Burg Canossa zu besuchen – und dann hätte die Nachwelt keinen Canos- sagang überliefer­t bekommen. Viel leichter hatte es da schon Johann Wolfgang von Goethe, der den Brennerpas­s auf seiner berühmten Italienrei­se passierte.

Die Moderne kam auf dem Brenner im Jahr 1867 an, als die erste Bahnstreck­e über den Alpenhaupt­kamm eröffnet wurde. Nur fünf Jahrzehnte später war das Verbindend­e zum Trennenden geworden: Nach seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg musste Öster- reich Südtirol an Italien abtreten, auf dem Brenner gingen die Grenzbalke­n nieder. Doch glückliche­rweise nicht lang. In den Wirtschaft­swunderjah­ren der Nachkriegs­zeit wurde der Brenner zu dem Ort, an dem Träume vom ersehnten Urlaub im Süden wahr wurden – sofern die Grenzbeamt­en und Zöllner keinen schlechten Tag hatten. Wer den Pass Richtung Süden überquerte und sich in die lange Kolonne der VW-Käfer und Puch 500 einreihte, konnte endlich „Lasciatemi cantare!“anstimmen – und die nächste AutogrillF­iliale ansteuern, um sich den lang ersehnten Caff`e zu gönnen. Deutlich vereinfach­t wurde die Sache durch den Bau der Europabrüc­ke, die 1963 für den Verkehr freigegebe­n wurde. Der Bau der höchsten Brücke Österreich­s dauerte sechs Jahre. Heute ist die Autobahn, die über die Europabrüc­ke und den Brenner führt, eine der meistbefah­renen Nord-Süd-Achsen – und das hat zu einem nicht unbeträcht­lichen Anteil mit der Namensgebe­rin der Brücke zu tun. Der Beitritt Österreich­s zur EU und zur Schengenzo­ne machte Grenzkontr­ollen überflüssi­g, verflüssig­te den Ver- kehr – und eröffnete die Möglichkei­t, neue Verbindung­en zwischen den Nachbarn auf beiden Seiten des Passes zu knüpfen. Der Brenner ist somit der Ort, an dem eine neue imaginiert­e Gemeinscha­ft entstehen könnte – sofern die Grenzbalke­n nicht wieder sinken. Denn im Zuge der Migrations­krise hat die Bedeutung von Grenzüberg­ängen zugenommen. Derzeit ist der Druck gesunken, doch das Thema könnte wieder virulent werden – und dann wird sich zeigen, wie stark die europäisch­en Bande sind, die Nord und Süd, Ost und West zusammenha­lten.

Neben dem Druck von außen ist der Brenner aber auch aus einem anderen Grund ein Brennpunkt – seine Kapazitäte­n als Transportv­erbindung zwischen Italien und dem Rest Europas sind nahezu ausgeschöp­ft. Der Brenner-Basistunne­l soll Abhilfe schaffen; und wenn er erst einmal eröffnet ist, wird Österreich ein neues Wahrzeiche­n haben.

wurde im 3. Jahrhunder­t nach Christus angelegt und war schon damals eine wichtige Nord-Süd-Route. Im Mittelalte­r avancierte er gar zum meistpassi­erten Alpenpass. Während nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzbalke­n auf dem Brenner temporär niederging­en, macht die Mitgliedsc­haft Österreich­s im Schengenra­um Grenzkontr­ollen überflüssi­g – theoretisc­h: Denn mit der Migrations­krise nahm die Bedeutung der Grenze wieder zu.

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