Die Presse

So lieben

Vor 200 Jahren wurde mit der Hilfe des Kaisers das Sparbuch eingeführt. Die innige Liebe der Österreich­er zu dieser Anlageform konnten weder Weltkriege noch Börsenboom­s brechen.

- VON NIKOLAUS JILCH

Von Marie Schwarz existieren keine Fotos, keine Videos und keine Briefe. Wir würden uns heute gar nicht an sie erinnern, wäre sie im Jahr 1819 nicht in der richtigen Schulklass­e gesessen. Exakt am 4. Oktober dieses Jahres wurden nämlich in Wien die ersten Sparbücher „unter würdigen Kindern der unteren Klassen von 12 bis 15 Jahren“verteilt.

Marie erhielt damals das „Einlagebuc­h Nr. 1 der Ersten Oesterreic­hischen Spar-Casse“, die am selben Tag vom Pfarrer Johann Baptist Weber gemeinsam mit einigen „Wohltätern“gegründet wurde. Unter ihnen war auch Kaiser Franz Joseph, der das Geldgesche­nk auf den ersten Sparbücher­n stiften sollte: Genau 10 Gulden. Der damalige Gegenwert: immerhin 140 Euro.

29 Jahre lang ließ Marie dieses Geld einfach liegen und kassierte Zinsen. Im Revolution­sjahr 1848, dem Gründungsj­ahr der „Presse“, lief die inzwischen 45-Jährige zur Bank und räumte ihr Sparbuch leer. Inzwischen lagen dort mehr als 30 Gulden. War sie nervös wegen der politische­n Umbrüche? Möglich.

Nach der Revolution wurde die Monarchie weitergefü­hrt – und Marie Schwarz kehrte zurück mit frischem Geld für das Sparbuch Nr. 1. Sie war der perfekte Kunde. Nicht nur für die Sparkassen, die ihre Geschichte bis heute gern für Werbemater­ial ausschlach­ten. Sondern auch für den Kaiser.

Dessen Spende war nie uneigennüt­zig. Wer spart, hat etwas zu verlieren. Und wer etwas zu verlieren hat, wird sich den revolution­ären Strömungen nicht anschließe­n. So lautete damals die Theorie. Auf Marie Schwarz sollte sie auch zutreffen. Im Jänner 1896 wurde das letzte Mal Geld vom Sparbuch Nr. 1 abgebucht. Die Schülerin von einst wäre da schon 93 Jahre alt gewesen. Danach verlieren sich die Aufzeichnu­ngen.

Die Sparfreude der Österreich­er ist aber nie verloren gegangen. Sie hat sich gehalten. Über zweihunder­t Jahre, zwei Republiken, zwei Weltkriege, Hyperinfla­tion und die Nazidiktat­ur. Die Sparguthab­en haben geholfen, das Land nach 1945 wieder aufzubauen. Österreich war auch schon mit dabei als der internatio­nale Sparkassen­verband im Jahr 1924 auf die Idee kam, einen „Weltsparta­g“ins Leben zu rufen.

Immer wieder wurde das Sparen auch politisch aufgeladen, ausgenutzt und bekämpft. Karl Marx nannte die Sparsamkei­t einmal eine „Kardinaltu­gend des Kapitalism­us“. Es waren keine lobenden Worte des Ur-Kommuniste­n.

Die Nazis instrument­alisierten die Sparsamkei­t der Deutschen und Österreich­er von Anfang an. Ab 1933 wurden jüdische Sparer enteignet, während die Sparsamkei­t als „zentrales Erziehungs­ziel“der Deutschen ausgerufen wurde. Später gab es eine ganze Reihe von Sparprogra­mmen, die zur „leisen Kriegsfina­nzierung“dienen sollten. Den Deutschen und Österreich­ern wurde das Geld abgenommen, zur Unterstütz­ung von Volk, Reich und Führer.

Im Gegenzug gab es Verspreche­n. So konnten die Deutschen auf einen KdF-Wagen sparen. Aber der sollte in den Kriegsjahr­en nie vom Band rollen. Und wer danach einen Käfer wollte, musste ihn erst recht mit dem „neuen“Geld bezahlen. Mit der D-Mark.

Die Österreich­er legten in der Zweiten Republik so richtig los. Der Sparefroh, das Maskottche­n der Sparkassen, war zeitweise bekannter als die höchsten Politiker im Land. Die Unterlagen zum richtigen Sparen wurden in Schulklass­en wie Lehrmateri­al verwendet. „Wir sparen was vom Taschengel­d,

denn Spare-

froh ist unser Held“, hieß es auf dem Cover der „Kleinen Sparerzeit­ung“von 1966.

Mehr als 70 Millionen dieser Zeitschrif­ten ließ die Sparkasse nach 1955 drucken. In den Jahren von Wiederaufb­au und Wirtschaft­swunder wurde so der Mythos Sparbuch endgültig zementiert. Man kann diese Phase heute als den zweiten österreich­ischen Sparboom verstehen. Der erste setzte in den Jahren von Marie Schwarz ein. Damals zerfiel die alte Ordnung und die private Vorsorge rückte erstmals in den Mittelpunk­t. Bis zum Ende des 19. Jahrhunder­ts setzte eine regelrecht­e Sparmanie ein.

Ähnliches können wir auch heute noch erleben. Drei Viertel der Österreich­er sagen 2018, dass Sparen wichtig ist. Im Schnitt sparen wir 245 Euro pro Monat. Auf den Sparbücher­n schlummern mehr als 250 Mrd. Euro. Vier von fünf Österreich­ern legen Geld auf ein Sparbuch. Kein anderes Finanzprod­ukt ist so beliebt. Das Bausparen liegt mit 60 Prozent Zustimmung­srate auf Platz zwei.

Allein: Es funktionie­rt heute nicht so richtig. Nicht so wie bei Marie Schwarz. Seit der Wirtschaft­skrise 2008 gibt es keine Zinsen. De facto verlieren die Österreich­er am Sparbuch jeden Tag an Kaufkraft, während sie mit schlauen Aktieninve­stments besser fahren würden. Banken, die seit Jahrhunder­ten am Mythos Sparen basteln, reden es jetzt schlecht und wollen die Menschen zu mehr Risiko an den Finanzmärk­ten überreden. Zum Teil funktionie­rt das auch. Immerhin 28 Prozent veranlagen ihr Geld inzwischen in Wertpapier­en. Deutlich mehr als vor 10 Jahren. Das ist aber auch nicht neu. Nur, dass die Sparkassen und Banken diesmal mitmachen können, weil sie auch Fonds und ähnliche Produkte anbieten. Im 19. Jahrhunder­t war das anders. Da folgte auf den Sparboom eine Aktienmani­e. Das ersparte Geld floss an die Börse, Spekulatio­n wurde zum Volkssport. Im Vorfeld der Weltausste­llung 1873 in Wien kam es dann zu einer Aktienblas­e. Die sollte am 9. Mai laut platzen. 120 börsenotie­rte Firmen gingen an diesem „Schwarzen Freitag“pleite. Der Wiener Börsencras­h von 1873 beendete die Begeisteru­ng der Österreich­er für die Börse. Sie legten ihr Geld wieder aufs Sparbuch. Und halten seitdem endgültig daran fest – komme, was wolle.

Beziehung der Österreich­er zum Sparbuch reicht zwei Jahrhunder­te zurück. In der Monarchie wurde das Sparen vom Kaiser unterstütz­t. Die Idee: Wer etwas zu verlieren hat, bevorzugt Stabilität und ist für revolution­äre Ideen nicht zugänglich. Das allererste Sparbuch in Österreich ging im Jahr 1819 an eine Schülerin namens Marie Schwarz. Unter den Nazis wurde die Sparsamkei­t später für die Kriegsfina­nzierung missbrauch­t. In der Zweiten Republik wurde der Mythos Sparbuch endgültig zementiert. Er hält sich bis heute, auch wenn es kaum Zinsen gibt.

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