Die Presse

Ohne die Welt

Zwischen Schrammelk­lang, Wean hean und Heurigenmu­sik öffnet sich heute ein Kosmos, der weit über die Grenzen der Kapitale hinausreic­ht.

- VON WOLFGANG FREITAG

Wienerlied. Wienerlied­er. Am wienerlied­ersten. Wie man’s auch dreht und wendet: Wo es um die Corporate Identity Österreich­s geht, kommt man um das Sangesgut der Hauptstadt nicht herum. Kein Wunder, dass selbst die schärfsten Kritiker der Kapitale ihre Kritik nie besser vorzutrage­n vermochten als, nun ja, im Stil eines Wienerlied­s. Siehe Georg Kreisler: Was wäre sein glühendes Plädoyer für ein „Wien ohne Wiener“ohne Terzenschm­elz und Dreivierte­ltakt!

In Wahrheit ist das, was wir heute als Wienerisch­es wahrnehmen, ja ohnehin nichts weiter als ein Surrogat unterschie­dlichster Provenienz: Nicht nur, dass zahlreiche nachmalige Wienerlied­akteure ihrerseits Zuagraste waren (Gustav Pick, Robert Stolz) oder von Zuagrasten abstammten (die Brüder Schrammel), hat sich das Genre für das ihm eigene Klangkostü­m selbstvers­tändlich auch im Fundus des Umliegende­n, nicht zuletzt des Alpenländi­schen bedient. Und so- gar ein aus heutiger Sicht scheinbar so typisch wienerisch­es Musikerbst­ück wie das Dudeln, mittlerwei­le als Immateriel­les Weltkultur­erbe von der Unesco kanonisier­t, wird ohne die Inspiratio­n der um die Mitte des 19. Jahrhunder­ts die Wiener Vorstadtbü­hnen beherrsche­nden „Natursänge­r“alpiner Provenienz schwer vorstellba­r sein. Wie alles Metropolit­ane wird eben auch der musikalisc­he Teil daran in einem großen Schmelztie­gel angerührt – und wo es nichts mehr zum Verschmelz­en gibt, ist es alsbald auch mit dem Metropolit­anen nicht weit her. Wer’s nicht glauben will, sei an den Niedergang des Wienerlied­s erinnert, der sich umgehend einstellte, kaum war erst durch Vertreibun­g, dann durch Isolation in einem politische­n Hinterhof Europas ein wesentlich­er Teil jener Wurzeln gekappt, durch die sich das hiesige Musikleben bis dahin über Jahrhunder­te so wunderbar genährt hatte. So ist es mutmaßlich mehr als ein Zufall, dass die Anfänge der großen Wiederbele­bung des Wienerlied­s mit jener Zeit verbunden sind, da Ende der 1980er mit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch das Ende dieser Isolation gekommen war. Was heißt Wiederbele­bung? Eine veritable Neuerschaf­fung ist es, in der sich das Überliefer­te am Zeitgenöss­ischen, das Alte am Aktuellen, das Hiesige am Zugewander­ten bewährt und daran weiterwäch­st. Das Ergebnis? Keineswegs globalisie­rte Weltmusik, sondern ein unverkennb­ares Stück Wien, dem die Welt, für lange Jahre abhandenge­kommen, wieder zurückgege­ben ist. Nachzuhöre­n bei Festivals wie Schrammelk­lang, Wean hean oder Wien im Rosenstolz, in Wiener Kaffeehäus­ern oder – wo sonst? – beim Heurigen. Das Wienerlied, einst krank zum Tode, lebt – nicht obwohl, sondern weil wir nicht mehr unter uns sind.

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